Westfalen neu gedacht
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Greta Civis: Wir schreiben das Jahr 1975. Ganz Westfalen wird aus Düsseldorf reformiert. Die rund 2300 Gemeinden werden in mehreren Schritten zusammengefasst. Am Schluss stehen insgesamt 396 Gemeinden. Orte verlieren ihre Selbstständigkeit, Ämter und andere Einrichtungen werden geschlossen, das ganze Leben ändert sich. Die Einheimischen leisten erbittert Widerstand. Bis heute sind die Wunden tief und manch eine und einer definiert sich lieber über die ehemalige als über die aktuelle Ortszugehörigkeit. Soweit die gängige Erzählung.
0:43 – 1:23
Aber mal im Ernst. Was ist dran am Mythos der ungewollten Reform? Wieso wurde sie überhaupt durchgeführt? Hat sie funktioniert? Und was machte und macht das mit den Menschen in Westfalen und darüber hinaus? Darum geht es in der ersten Folge von Untold Stories – Westfalens verborgene Geschichten erzählen. Mit
Claudia Kemper: Claudia Kemper
Greta Civis: und
Christoph Lorke: Christoph Lorke.
Greta Civis: Beide forschen am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte. Und ich bin Greta Civis.
1:24 – 2:17
Wir steigen direkt ein mit einem Zitat von 1975 am 1. Januar. Da lief in der Jahresschau folgender Beitrag:
Liebe Bürgerinnen und Bürger, mit dem Inkrafttreten des Münster-Hamm-Gesetzes am 1. Januar 1975 wurden 15 Gemeinden und mehrere Gebietsteile, darunter auch Badwald-Liesborn, in die Stadt Lippstadt eingegliedert. Die Stadt kann aufgrund dieses Gebietszuschnitts das mit ihr verflochtene Umland in Zukunft in ihre städtebaulichen Pläne einbeziehen und so eine sinnvolle und geordnete Bauleitplanung verwirklichen. Damit ist sichergestellt, dass die Stadt ihre Funktion als wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Raumes Lippstadt erfüllen kann.
2:18 – 2:34
Klingt soweit erstmal nachvollziehbar und sehr sachlich. Die Idee von Reorganisation und Restrukturierung, das war ja nicht nur in NRW präsent, das war ja ein Phänomen in der ganzen Bundesrepublik und auch gar nicht so neu.
2:35 – 3:29
Claudia Kemper: Die Ideen dazu gab es natürlich schon viele Jahrzehnte länger. Das hat damit zu tun, dass die Bundesrepublik immer noch gegliedert war, wie im Prinzip im 19. Jahrhundert. Und die Ideen, die Verwaltungseinheiten sehr viel effizienter zu gestalten, das heißt vor allen Dingen größer, um sie besser organisieren zu können, schwangen eigentlich schon seit der Zwischenkriegszeit, dann in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Ministerien, weil man schließlich am Ende auch die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen wollte der einzelnen Kommunen. Und als es dann 1965 soweit war, war das im Prinzip das Ende eines sehr, sehr langen Planungsprozesses.
3:30 – 3:54
Greta Civis: Und um das ganz konkret zu fassen, also es ging um so Bereiche wie Bildung, es ging um infrastrukturelle Nachversorgung. Ich denke an Bibliotheken, Schwimmbäder.
Christoph Lorke: Auch Abwasserkanäle und all das. Also all das, was man als Daseinsvorsorge beschreiben könnte. Und letztendlich eine Anlehnung an den Verfassungsparagrafen, wenn man so möchte, das Grundgesetz, also gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen in den einzelnen Regionen.
3:55 – 4:22
Dann hatte man 20 Jahre lang oder vielleicht nicht ganz 20, sondern eher 15 Jahre lang beobachten können, wie sich einzelne Regionen im Zuge des Wirtschaftswunders, des sogenannten Wirtschaftswunders entwickeln können. Und da gibt es natürlich Ungleichzeitigkeiten, die man feststellt und unterschiedliche Bevölkerungswege und Wanderungssalden. Und als man das an Schreibtischen in Düsseldorf feststellt, merkt man, dass man eben hier und da eingreifen muss, um entsprechende Nivellierungen vielleicht auch und Kreisgrößen entsprechend auch anzupassen.
4:23 – 5:32
Greta Civis: Das klingt erstmal sehr nachvollziehbar, dass eine Gemeinde mit 5000 Einwohnerinnen größere Probleme hat, eine Bibliothek zu unterhalten, als eine mit 100.000.
Claudia Kemper: Und Nordrhein-Westfalen war eines der Bundesländer in der Bundesrepublik, wo es sehr viele Kleingemeinden gab, anders als in anderen Flächenstaaten. Also das heißt Gemeinden mit unter 5000 Einwohnern. Und das ist natürlich am Ende des Tages eine ziemlich ineffiziente Geschichte, wenn jede Gemeinde einen eigenen Bürgermeister hat, eine eigene Verwaltungseinheit, vielleicht auch eigene Gemeinde, Steuersätze erhebt, eigene Planung vollzieht. Wo soll jetzt welche Infrastruktur angesiedelt werden? Und letztendlich auch konkurriert um Ressourcen, um die Ansiedlung von Unternehmen und so was. Das bindet natürlich ganz viele Kräfte. Da kann man natürlich aus Sicht einer Landesregierung sehr schnell zu dem Schluss kommen, das funktioniert so nicht auf Dauer. Wir müssen das effizienter gestalten.
5:33 – 6:08
Christoph Lorke: Der technische Prozess dahinter ist die Rationalisierung. Und mit den 60er kam eben das Bestreben auf ganz vielen Ebenen Dinge anzugleichen, zu ordnen. Und das ist sozusagen dann eben auch hier in der Gebietsreform ganz wunderbar abzulesen. In einem Bundesland, was Claudia auch sagte gerade, was so wahnsinnig heterogen in der ganzen Struktur ist. Wir haben so viele verschiedene Regionen mit boomenden Großstadt- oder Urbangegenden und entsprechend mit dann aber eben auf der anderen Seite sehr ländlich geprägten Gemeinden mit längeren Wegen und entsprechenden Aufwand, Dinge eben auch zu modernisieren vielleicht auch.
6:09 – 7:01
Greta Civis: Es war also nicht nur in Nordrhein-Westfalen, aber in Nordrhein-Westfalen war es intensiv, diese Strukturreform. Und auch erstmal nachvollziehbar aus der bisherigen Bestandsaufnahme. Und die Landesregierung hat auch geworben um die Idee. Die sind durchaus in die Kommunen gegangen. Es gab diese fliegende Kommission. Da würde ich mal einen Ton aus Lüdenscheid jetzt einblenden:
Wie ein roter Faden zieht sich die Raumordnung durch das Jahr 1967. Es gab Vorschläge, viele Diskussionen und noch mehr Gutachten. Am 14. November reist die fliegende Kommission aus Düsseldorf an. Die Eising-Gruppe besteht aus Spezialisten für kommunale Neugliederung. Sie wollen sich von der Situation im Kernraum Lüdenscheid überzeugen.
7:02 – 7:33
Also intensives Werben der Landesregierung, da wird diese Kommission in die Lande geschickt. Soweit ich das gelesen habe, unter anderem bei David Merschjohan, eher eine Werbeveranstaltung als eine tatsächliche Bestandsaufnahme, wurde aber so präsentiert als Bestandsaufnahme und eben auch, um auf die Sachzwänge der Situation hinzuweisen. Die Situation war nicht ganz einfach. Es waren nicht alle einverstanden mit dem, was da passiert.
7:34 – 8:11
Ich würde jetzt direkt weitergehen zum Zitat von Willi Weyer. Und da merkt man schon auch einen gewissen emotionalen Druck in der ganzen Sache:
Ein Gott, was die Deckungsgleichheit der Wünsche angeht, das zeigt, glaube ich, der heutige Abend, meine Damen und Herren. Die Vielfalt der Wünsche ist nicht deckungsgleich. Und versetzen Sie sich bitte in die Situation eines Ministers, der die Aufgabe hat, aus der Summe der unterschiedlichen Wünsche nunmehr einen Vorschlag der Landesregierung zu unterbreiten. Er wird nie allgemeine Zustimmung finden. Er wird in jedem Falle irgendjemandem wehtun müssen.
8:12 – 8:29
Er wird in jedem Falle jemandem wehtun müssen. Das ist eine ziemlich harte Aussage. Und man sieht auch im Publikum teilweise, wie die Opponenten mit den Augen rollen, sich schlafend stellen oder ähnliches. Also es war durchaus eine angespannte Stimmung bei diesen Werbeveranstaltungen.
8:30 – 9:02
Claudia Kemper: Auf jeden Fall. Und das hat natürlich den Hintergrund, dass die Gemeinden bis noch Anfang der 60er Jahre über ihre eigenen Zuständigkeiten und auch Zuschnitte selbst entscheiden durften. Und dieses Recht ist in der Gemeindeverordnung aufgehoben worden, bevor diese Reform in Gang gesetzt worden ist. Und das ist natürlich ein ganz entscheidender Punkt gewesen, der der Landesregierung den Gestaltungsfreiraum und die Handlungsmöglichkeiten gegeben hat.
9:03 – 9:40
Willi Weyer sagt ja in diesem Zitat ganz dezidiert, die die Gemeinden Mitwirkungsrecht haben, dass sie gehört werden sollen. Das ist auch weiterhin Usus. Aber es gibt nicht mehr die rechtliche Grundlage dafür, dass das, was die Gemeinden wollen, auch von der Landesregierung umgesetzt werden muss. Im Gegenteil, die Landesregierung ist nun am Zug. Und will natürlich, muss natürlich auch, die Vorschläge, die Pläne der einzelnen Gemeinden und Kommunen einbeziehen. Da sitzen schließlich die Fachleute und auch diejenigen, die vor Ort die Pläne mit anderen Gemeinden entwickeln können.
9:41 – 10:22
Aber für die Gemeinden besteht überhaupt keine Zusicherung, dass das dann auch umgesetzt wird. Deswegen hatten diese fliegenden Kommissionen auch so eine wichtige Funktion. Die waren nicht einfach nur Werbemaßnahmen, sondern sie sollten auch als Ventil dienen, dass vor Ort dann auch diskutiert werden konnte, warum der eigene Vorschlag unter Umständen abgelehnt worden ist und dann doch der größere Zuschnitt gewählt worden ist. Denn in der Regel war es so, dass die Vor-Ort-Pläne einen ein bisschen kleineren Zuschnitt vorgesehen haben und am Ende die Landesregierung dann doch eher den größeren Zuschnitt wollte.
10:23 – 10:49
Christoph Lorke: Das ist ein super Beispiel dafür, dass man eben Geschichte nicht vom Ende her denken kann. Was ist passiert, was ist tatsächlich 1965 gemacht worden oder bis 1965 gemacht worden? Diese Diskussion, die in den einzelnen Regionen, in den einzelnen Kommunen geführt worden sind, die ging teilweise ziemlich hitzig vor. Auch wenn wir in den Protokollen meistens nur sehr aggregiert die Stimmen haben, können wir davon ausgehen, dass sie von wirklich Dutzenden, von Hunderten Leuten teilweise in Gaststätten besucht worden sind.
10:50 – 11:27
Und hier entsprechend sehr hitzig auch die Argumente, sehr emotional die Argumente geführt worden sind, wo alte historische Argumente angeführt worden sind, alte Gebietsansprüche oder Hoffnungen zumindest eben auch artikuliert worden sind. Und das sollte man auf gar keinen Fall im Rückblick irgendwie geringschätzen. Da kommt man, glaube ich, recht nah ran an genau diese Vielfalt der Wünsche, die ja Willi Weyer hier auch in seinem Zitat so etwas so nebenbei vielleicht auch erwähnt. Aber die sind sehr konträr.
Und das zusammenzubinden und entsprechend hier irgendwie zu harmonisieren, das ist schon eine spannende Aufgabe gewesen, glaube ich, für diese Verwaltungsjuristen in erster Linie.
11:28 – 12:18
Und ich sage bewusst Juristen, denn es handelt sich hier vor allem um männliche Entscheider, die da entsprechend in den Ministerien und den Stühlen, Schreibtischen gesessen haben.
Greta Civis: Das ist interessant, das sieht man im Film auch. Also er sagt immer, sehr geehrte Damen und Herren, ich sehe nur Männer im Publikum. Lass uns nochmal ein bisschen genauer schauen, was war da los? Also an einer anderen Stelle schreibt Willi Weyer tatsächlich vom, also er sagt „manche haben sogar vom Siebenjährigen Krieg der kommunalen Selbstverwaltung gesprochen“. David Merschjohann zitiert einen Aufruf des Verkehrsvereins und Bürgerschutzvereins Schloss Neuhaus, wo sie schreiben, Eingemeindungen degradieren gesunde Gemeinden zu Randexistenzen. Die bloße Addition von Städten und Gemeinden schafft schlechtere Verwaltung und löst die übergreifenden Probleme nicht.
12:19 – 12:49
Zum Jubiläum war beispielsweise eine Zeitzeugin im WDR 5 Westblick, in einem kurzen Feature, die beschrieb, wie schlimm das für sie war, als sie das Nummernschild ihres Autos ändern sollte:
1975 hatte ich einen blauen VW Käfer mit einem Borkner Nummernschild und da musste jetzt WES drauf, Wesel. Das fand ich ganz schrecklich. Ich hatte das Gefühl, das Auto gehört mir nicht mehr.
12:50 – 13:52
Claudia Kemper: Das Beispiel mit den Autokennzeichen und die große Trauer darum, dass man das alte Autokennzeichen verliert, zeigt nach meiner Meinung was hier aufeinander getroffen ist während dieser Gebietsreform. Auf der einen Seite eine sehr rationalistische Vorstellung von, wie man Staat und Verwaltung planen kann und dass auch vor dem Hintergrund, dass man völlig davon überzeugt war, dass Planung und wissenschaftsbasierte Entscheidungen genau das Richtige sind für das Entwickeln eines Landes, für Fortschritt und Modernisierung. Das war so die Haltung der Landesregierung, das war nichts Besonderes zu dieser Zeit, sondern das war in den 1960er Jahren oder bis zu den 1960er Jahren war das Gang und Gebe. Die Idee, dass man mit einer wirklichen Expertise geleiteten Planung die besten Entscheidungen trifft und damit auch wirklich große Projekte umsetzen kann zum Wohle der Bevölkerung. Das auf der einen Seite.
13:53 – 14:29
Und auf der anderen Seite, was die meisten Politiker völlig unterschätzt haben, ist die Bedeutung von Emotionen in so einem politischen Prozess. Dass Willensbildung, dass politische Entscheidungen eben nicht nur durch Sachargumente möglich gemacht werden, die sind natürlich wichtig, aber zu einem Guteil eben auch von Emotionen abhängig sind. Und diese Emotionen, die in einzelnen Gemeinden, in der Bevölkerung natürlich da waren, das kennen wir auch von unserem eigenen Leben, wenn eingegriffen wird in unserem unmittelbaren Lebensumfeld, dann trifft uns das, dann macht das sofort was mit uns. Und wenn aber in keinster Weise darüber gesprochen wird und auch kein einziges Argument an diese Emotion, diese Emotionalisierung von so einer Veränderung aufgreift, dann regt sich natürlich Widerstand.
14:50 – 15:29
Christoph Lorke: Dass das bei diesen Kennzeichen immer wieder so hochkommt, das ist kein NRW-Spezifikum, das können wir ganz anderswo, beispielsweise in Brandenburg, also sozusagen in der Zeit nach 1990, sehr, sehr gut erkennen. Es geht um Bezüge, es geht um Gewachsenes, es geht um Entfernungen, es geht um eine Mental Map der Leute vielleicht auch. Wir können das in NRW sehr gut beobachten an Kreisen wie dem Kreis Steinfurt beispielsweise oder auch dem Kreis Gütersloh, wo er eben für viele kleinere Gemeinden Bielefeld näher ist, als dieses Gütersloh, mein Beispiel zu nennen, wo man ganz einfach da zum Einkaufen hinfährt, da seine Erledigungen und so weiter, seine Arztbesuche vielleicht auch führt und nur auf einmal, zu einem Tag auf dem anderen, eine andere Zuordnung erlebt und sich in irgendeiner Weise auch dazu verhalten muss.
15:30 – 15:54
Und dann regt sich genau dieser Protest, der hier auch zitiert worden ist, auf den Brief, also der Protest im Kleinen, das Aufbegehren im Kleinen oder eben bis in die heutige Zeit hinein, dass man eben ein ganz anderes Kennzeichen vielleicht auch dann bei der Zulassungsstelle entsprechend auch nimmt, als das, was vielleicht eigentlich vorgesehen ist. Also auch diese Möglichkeit ist auch so eine Art, weiß ich nicht, emotionale Auflehnung gegen diese vermeintliche Leidenschaftslosigkeit des Bürokratischen.
15:55 – 16:33
Greta Civis: Einerseits haben wir ganz viel Widerstand und Widerwillen auch dokumentiert, andererseits gab es dann die Aktion Bürgerwille, wo ein Bürgerbegehren initiiert wurde gegen die Strukturreform oder gegen die Strukturreform in dieser Form. Das weiß ich gar nicht genau. Das ist gescheitert. Also ganz so wild war es dann vielleicht doch nicht?
Claudia Kemper: Nein, es war überhaupt nicht so wild, wie das mitunter kolportiert wird. Das, was wirklich wild war und was wirklich bemerkenswert war und was viel mehr auch in der Erinnerung bleiben sollte, sind die Konflikte zwischen der kommunalen Ebene und der Landesregierung.
16:34 – 17:16
Weil da hat es wirklich gekracht zwischen den einzelnen Gemeinden, den Kommunalpolitikern, Kreispolitikern und Landespolitikern. Also die Gebietsreform war im Grunde genommen der ultimative Stresstest für den Föderalismus in der Bundesrepublik, weil wirklich auf allen Ebenen alle Beteiligten, die in irgendeiner Form politisches Mandat hatten oder politische Entscheidungen zu treffen hatten, da mitgemacht haben und ihre eigenen Interessen durchsetzen wollten. Die treffen nun mal, gerade bei der Frage, welches Gebiet gehört wohin, dann unmittelbar auch aufeinander.
17:17 – 17:47
Die Bevölkerung in den einzelnen Gemeinden, die hat entweder teilweise selbstständig sich organisiert, um Protest auf die Beine zu stellen. Aber oft eben auch mit den Kommunalpolitikern zusammen. Das war natürlich auch der entscheidende Mobilisierungsfaktor. Also inwiefern die Kommunalpolitiker sich gegen Entscheidungen aus Düsseldorf engagiert haben und die Bevölkerung vor Ort motiviert haben und auf die Straße gebracht haben.
17:48 – 18:23
Christoph Lorke: Diese Vermittlung ist glaube ich kaum zu unterschätzen und das hängt wahrscheinlich wirklich auch an einzelnen oder hing an einzelnen Leuten ab, wie gut sie argumentieren und sich artikulieren konnten und auch wenn jemand wie Köstering, also der Ministerialdirigent im NRW Innenministerium sagte, wir wollen Doppelnamen vermeiden, also Bindestrichnamen vermeiden, kam es dann eben doch dazu. Und Reda-Wiedenbrück und Herzebrock - Klarholz klingen für uns jetzt logisch und relativ naturgegeben, aber das ist es natürlich nicht, wenn zwei weitgehend, ja nicht vielleicht Verfeindete, aber doch distanziert gegeneinander stehende Kommunen sozusagen zu einem gemacht werden.
18:24 – 18:36
Auch das ist Symbolpolitik auf der einen Seite, aber es hat natürlich auch handfest mit Arbeitsplätzen und Attraktivität und Ausstrahlung zu tun. Wo sitzt jetzt eigentlich die Verwaltung letztendlich und wo siedeln sich Menschen letztendlich auch an?
18:37 – 19:10
Greta Civis: Wir reden ja in der dritten Folge auch noch über das Scheitern. Wenn wir es mal unter dem Aspekt betrachten. Nun ist ein Kommunalpolitiker, heute auch eine Kommunalpolitikerin, näher an der Bevölkerung als die Landesregierung in Düsseldorf. Düsseldorf Westfalen ist auch so eine Sache, ist noch mal ein bisschen weiter weg als im Rheinland. Dennoch hätte die Landesregierung was besser machen können? Gibt es so Stellschrauben, wo man heute rückblickend sagen würde, da wäre vielleicht noch eine Möglichkeit gewesen, was von der Bitterkeit auch aufzufangen?
19:11 – 19:53
Claudia Kemper: Ich neige dazu, an dieser Stelle „hätte, hätte Fahrradkette“ zu sagen, denn aus der damaligen Sicht hat man eigentlich alles richtig gemacht, denn das war der politische Standard in dieser Zeit. Also die Politiker aus Düsseldorf, die das alles in die Wege geleitet haben, das waren Menschen, die alle in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Bundesrepublik sozialisiert worden sind. nach Kriegszeit in der Bundesrepublik sozialisiert worden sind. Und die waren mit einem politischen System im Umgang, das Partizipation noch gar nicht kannte in der Form, wie wir das heute kennen.
19:54 – 20:45
Und es war tatsächlich so, dass ja erst ab Ende der 60er Jahre und dann sehr massiv in den 1970er Jahren so eine breite Politisierung in der Bevölkerung einsetzte aus verschiedenen Gründen.
Greta Civis: Es war auch paternalistisch einfach.. Die Idee war, die Landesherren, die Landesväter entscheiden für die Landeskinder.
Claudia Kemper: Genau, das ist ja mit eine Basis für überhaupt dieses planungseuphorische, technokratische Denken, wie es bis etwa in den 1960er Jahren in allen Politikbereichen vorherrschte, dass man mit expertengeleitetem Wissen die besten Entscheidungen trifft zum Wohle der Bevölkerung. Dass da das wirklich wahre, gute Wissen vorherrscht und alles andere nice to have, aber nicht wirklich zielführend ist.
20:46 – 22:22
Und dass sich die gesellschaftliche Situation in so kurzer Zeit so massiv ändert und Mitspracherechte gefordert worden sind, und zwar nicht nur im privaten oder im unmittelbaren Umfeld, sondern auch verbunden worden ist mit einem Mobilisierungsdrang und mit Organisationen, mit privaten Bürgerinitiativen, die gegründet worden sind. Das war eben noch gar nicht absehbar. Insofern, was hätten die anders machen können? Ich glaube aus ihrem unmittelbaren Blick heraus gar nicht so viel, weil sie gar nicht die Möglichkeit gesehen haben. Aber natürlich im Laufe eines Reformprozesses mit zu lernen, das ist etwas was dann vielleicht übersehen worden ist. Und die fliegenden Kommissionen mit denen man dann auch so notdürftige Mitsprache in irgendeiner Form zu, na ja, sage ich mal, zu zelebrieren oder vielleicht auch ein bisschen symbolpolitisch nur zu inszenieren. Die haben natürlich nicht ausgereicht. Die politischen Instrumente wurden nicht irgendwie verändert, um diese Reform durchzusetzen. Und das ist, glaube ich, etwas, was jeder andere spätere Reformprozess sehr viel mehr beachten musste, dass eben in irgendeiner Form die politische Größe Bevölkerung, Wahlbevölkerung einbezogen werden muss in solche Umsetzungen.
22:23 – 22:44
Greta Civis: Das war die Situation in Nordrhein-Westfalen. Und dann gab es ja eben diese vergleichbare Situation in Brandenburg. Nach der Wende in den 1990ern war eine ähnliche Situation und da gab es dann Unterstützung aus Nordrhein-Westfalen durch maßgeblich Herrn Köstering.
22: 45 – 23:29
Christoph Lorke: Richtig, Heinz Köstering, Ministerialdirigent im Innenministerium und war in den 60er, 70er Jahren maßgeblich für die Gebietsreform mitverantwortlich, gemeinsam mit dem Herrn Eising und dem Herrn Weyer. Und Herr Köstering ist frisch pensioniert, 1987, und bringt sich selbst so ein bisschen ins Spiel mit seiner Expertise im brandenburgischen Innenministerium. Brandenburg als Patenland von Nordrhein-Westfalen. Und Köstering sieht hier sozusagen ein Betätigungsfeld, was für ihn lukrativ scheint. Und er geht sozusagen mit einem gewissen Selbstbewusstsein daran, weil er ja die Erfahrung hat, dass diese Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen recht gut funktioniert hat. Weiß aber auch ganz genau, und das beschreibt er in einem Papier 1990, bei einer Reform in dieser Größenordnung sind Fehler immer unvermeidlich.
23:30 – 24:01
Er gibt dann so ein paar, so zehn Thesen ins Brandenburger Innenministerium und sagt, diese zehn Dinge sind zu beachten, wie beispielsweise nimmt die Leute mit und macht das behutsam und denkt an Kompromisse. Und das passiert auch. Was er vielleicht nicht so berücksichtigt und was er vielleicht auch nicht berücksichtigen konnte, ist einfach die Zeit gewesen. Die Bundesrepublik 1965 war einigermaßen etabliert, war einigermaßen stabil und hatte ein einigermaßen rosiges, wirtschaftliches, einigermaßen wirtschaftlich solides Fundament. Brandenburg 1990 nicht der Fall.
24:02 - 24:33
Wir haben auch ein ganz anderes Bundesland zu dieser Zeit. Wir haben nur drei Großstädte, die sind auch kleine Großstädte mit Potsdam, Frankfurt, Ureda und Cottbus. Und wir haben eine sehr schwierige Grenze zu Polen, eine sehr ausstrahlende Großstadt Berlin, damals noch nicht Hauptstadt und eben wirklich Kleinstgemeinden in einer großen Zahl. Und da ein Reformprojekt, ein Reformvorhaben von NRW mehr oder weniger auf ein ganz anders strukturiertes Bundesland zu übertragen, nun ja, das bringt sicherlich Schwierigkeiten mit sich und das hat es auch mit sich gebracht.
24:34 – 25:31
Beurteilen wir das nach der reinen Effizienz, also die Reduzierung von Gemeindeanzahl, dann hat das ganz gut geklappt. Schauen wir auf die Legitimität dieser Reform, dann haben wir einfach an der Basis sozusagen sehr viel Widerspruch, sehr viel Frust, sehr viel Wut auf eine Entscheidung, die von denen da oben getroffen wurde, wobei die da oben irgendwie so ein Konglomerat aus Potsdamern und sogar auch Düsseldorfern waren. Also das war auch die Wahrnehmung der Zeitgenossen, dass hier sozusagen über die Köpfe hinweg entschieden worden ist. Trotz aller Eingaben, trotz aller Stellungnahmen, trotz aller Versuche, die Bevölkerung, soweit es eben geht, mitzunehmen. Hier prallt dieser Gestaltungsanspruch aus NRW auf so eine frisch erwachte Aufbruchsstimmung, demokratisierte Aufbruchsstimmung, die in der DDR an runden Tischen und an vielen anderen Orten eben schon ihren Niederschlag gefunden hat, aber hier eben logischerweise nicht überall umgesetzt werden kann. Das muss wehtun. Auch in Brandenburg tat es einigen sehr weh.
25:32 – 26:41
Greta Civis: Aber prinzipiell wurde in Brandenburg das Element Partizipation eher mitgedacht.
Christoph Lorke: Man hat sich nicht auf NRW-Basis mit Busfahrten und mit Aussprachen und Bürgerversammlungen mit reinzubringen. Aber man hat eben Stellungnahmen eingeholt. Und da werden mehrere Dutzend Stellungnahmen, die eingehen, die von einer Arbeitsgruppe ausgewertet werden. Diese Arbeitsgruppe besteht aus Fachleuten aus NRW und Brandenburg. Der Arbeitsgruppe steht ein Jurist aus NRW, Franz-Gerd Stähler, vor und die entscheiden dann und passen aber ihren ursprünglichen Plan von 1990-91 letztendlich kaum an. Aber was erfolgreich verkündet werden kann, ist, Brandenburg schafft als erstes Bundesland den neuen Bundesländern eine Gebietsreform. Und dann sind erstmal alle froh, weil die anderen Probleme, Massenarbeitslosigkeit, demografischer Wandel, Deindustrialisierung, Abwanderung, die sind so groß, dass man zumindest hier erstmal einen Haken dahinter machen kann. Ungeachtet aller späteren Korrekturverfahren, wie eine neue Gebietsreform in den Nullerjahren und vielen Diskussionen, die damals die Zeitgenossen nicht auf dem Schirm haben konnten.
26:42 – 27:34
Greta Civis: Und Claudia, für NRW, du hattest die politischen Kosten erwähnt die doch schwer zu beziffern sind.
Claudia Kemper: Genau. War die Gebietsreform erfolgreich? Von dem was avisiert worden war von der Landesregierung rein zahlenmäßig die Gemeinden zu reduzieren, ist sie mit Sicherheit erfolgreich gewesen. Das ist durchgeführt worden in zehn Jahren. Und in keinem anderen Flächenland sind so viele Gemeinden zusammengefasst worden und die Zahl insgesamt so reduziert worden. Aber schon bei der Frage, ob das Ganze wirklich zu einer Effizienzsteigerung geführt hat, scheiden sich die Geister. Zwar Personalkosten werden eingespart, Verwaltungseinheiten zentralisiert, das lässt sich natürlich alles beziffern.
27:35 – 28:35
Aber inwiefern das Leben in den Kommunen, in den neuen Kommunen dann wirklich effizienter ist, wenn es um Wege geht, die man zurücklegen muss. Wenn es darum geht, ob wirklich alle Leute sich engagieren. In Vereinen zum Beispiel, zivilgesellschaftlichen Organisationen, die natürlich auch einen anderen Bezugsrahmen haben, wenn auf einmal die Kreisstadt oder die größeren Ballungszentren weiter weg sind als noch zuvor. Wenn die Wege zu den politischen Entscheidungsträgern einfach länger werden und man sich auch nicht mehr, und das ist tatsächlich ein wichtiger Punkt, nicht mehr so kennt und auch nicht mehr so über den Weg läuft, dann sind das natürlich Kosten oder Effizienzverminderungen, sag ich mal, die man nicht in Zahlen fassen kann, aber die natürlich ins Kontor schlagen, und zwar langfristig.
28:36 –29:21
Und dann würde ich das eben auch als politische Kosten beziffern, die da gemacht worden sind. Das heißt unter Umständen weniger Engagement von Leuten, die nicht mehr so einen direkten Bezug haben zu ihrer Gemeinde, zu ihrer Kommune als vorher. Das kann man natürlich als übertrieben abtun. Aber wenn man politische Emotionen ernst nimmt, dann ist das natürlich ein Faktor, dass Leute einen unmittelbaren Bezugsrahmen und eine unmittelbare Relevanz ihres eigenen Tuns spüren müssen, um auch aktiv zu werden. Wie auch immer der hergestellt wird mit der Gebietsreform, ist er erst mal vielen Leuten entzogen worden. Das muss man feststellen.
29:22 – 30:33
Das ist bis heute zu in vielen Teilen auch vielleicht nicht mehr wiederhergestellt worden. Und insofern hat diese Gebietsreform eine lange Wirkung, die man nicht, wie gesagt, in Zahlen messen kann, aber in so einer gesellschaftspolitischen Langfristigkeit. U
Christoph Lorke: Und diese Frage der Selbstwirksamkeit, gerade eher in periphereren Regionen, die stellt sich in Brandenburg umso mehr. Das haben die Macher der Gebietsreform von damals wahrscheinlich nicht auf dem Schirm haben können. Aber was eben entstanden ist, sind Sektoralkreise um Berlin, die davon profitieren, vom Zuzug aus Berlin, vom sogenannten Speckgürtel. Aber es gibt eben einfach wahnsinnig dünn besiedelte Landkreise in Brandenburg. Also eine der vier mit Abstand am meisten dünn besiedelten Kreisen, wie beispielsweise die Uckermark, die sind eben auch in Brandenburg und die haben eben mit spezifischen demografischen Problemen zu tun. Und alles, was man damals sagte, also irgendwie müssen Landkreise zwischen 120.000 und 150.000 Einwohnern entstehen, das kann da schon längst nicht mehr aufrechterhalten werden. Und das hat unabsehbare Folgen für Demokratisierungsprozesse, für auch der Frage von Vertrauen in demokratische Institutionen, politische Institutionen.
30:34 – 31:14
Und davon profitieren wiederum populistische Parteien. Und das ist sicherlich auch eine bedenkliche Nebenfolge, die die Kösterings und Co. möglicherweise aber zu dieser Zeit noch nicht erahnen konnten.
Claudia Kemper: Und das betrifft nicht nur die Bevölkerung, die so eine gewisse Entfremdung zu ihren politischen Entscheidungsträgern erlebt, sondern auf der politischen Ebene selbst auch. Also es gibt eine Studie zu Nordrhein-Westfalen, wo ein Großteil der Kreistagsabgeordneten sagt, dass sie ihren Kreistag für zu groß hält. Weil man sich einfach nicht mehr kennt. Weil es einfach zu viele Leute sind, die man nicht alle auf dem Zettel haben kann und mit denen man im Kontakt sein kann.
31:15 – 31:43
Das ist vielleicht ein nicht ganz demokratischer Teil von Politik, aber es ist ein realer und sehr wichtiger Teil von Politik. Nämlich das sich kennen und über persönliche Kontakte auch Beziehungen herzustellen, denn das ist die Basis von dann eben auch langfristigen politischen Entscheidungsprozessen. Und das ist eben ein langfristiger Effekt der Gebietsreform, der auch in Nordrhein-Westfalen zu spüren ist.
31:44 – 32:42
Greta Civis: Wir sind ja von den 70ern in die 90er schon ziemlich an die Gegenwart herangerückt. Gehen wir mal nochmal weiter. Es gibt aktuell Projekte, wo ihr sagt, die bergen eine ähnliche Sprengkraft wie die Gebietsreform. Es war eine ganz andere Zeit, wir hatten das angesprochen. Der Vater entscheidet für die unmündigen Kinder, wie sie am besten leben sollen. Das wird heute anders gesehen. Fand ich auch sehr interessant in der Vorbereitung, dass das so selbstverständlich als Staatsaufgabe wahrgenommen wurde und heute gar nicht mehr ist. Da ist im Gegenteil sowas wie, vielleicht nicht Rationalisierung, aber Optimierung, ist ein ganz persönliches Projekt. Damals war das ein öffentliches Projekt und ist öffentlich diskutiert worden. Aber gibt es aktuell was, wo ihr sagt, da seht ihr eine ähnliche Sprengkraft und Relevanz und wir können auch in die Zukunft gucken oder auch träumen. Wie würden wir uns Änderungsprozesse wünschen?
32:43 – 33:31
Also die Gebietsreform ab 1965 ist natürlich ein Kind der Zeit. Mit so viel Planungseuphorie und auch Selbstbewusstsein, also auch wirklich Selbstüberzeugung, an so ein Riesenprojekt ranzugehen. Das wird, glaube ich, kein Politiker, kein Politikerin in der Gegenwart auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen, weil sich nicht nur die Zeit geändert hat, sondern auch komplett alle Bedingungen, wie man Politik machen kann. Es sind mittlerweile so viele Teilbereiche, Institutionen, Entscheidungsträger, Eventualitäten mit einzubeziehen in so einen Prozess, dass wir eher von Reformstau wieder sprechen.
33:32 – 34:26
Übrigens war diese Gebietsreform mit einer Antwort auf den Reformstau, den es vorher gegeben hat. Also deswegen war die ja auch so erfolgreich und konnte diese durchgezogen werden, weil man jetzt endlich den Knoten mal durchschlagen wollte. Diesen Knoten gibt es ja heute auch in irgendeiner Form. Also wir kommen nicht wirklich weiter mit einer Energiewende. Wir kommen nicht wirklich weiter mit einer Gesundheitsreform. Wir kommen nicht wirklich weiter mit einer Bildungsreform. Das sind ja alles ganz dicke Bretter. Und wir wissen alle, wir müssen es machen, um langfristig gut leben zu können. Und ich sage hier nichts über Inhalte, sondern einfach nur, dass es gemacht werden muss, weil so geht es nicht weiter. Also ganz dicke Knoten, ganz dicke Bretter. Und da müsste man mit einer umfassenden Reform ran. Und immer wieder ist davon die Rede. Und am Ende reden wir dann doch aber eher von Reförmchen oder irgendein Beitragssatz hat sich vielleicht verändert oder so was.
34:27 – 35:07
Und das liegt nach meiner Wahrnehmung nicht so sehr am Unwillen von Politikern, sondern an den vielen Stellschrauben oder auch zu Recht Mitsprachemöglichkeiten, die alle Bereiche haben. Und dass das Umsetzen einer Reform sehr viel komplexer und komplizierter geworden ist. Deswegen würde so eine Reform so nicht mehr durchgeführt werden. Man muss sich, glaube ich, das Reformmachen ganz anders vorstellen für die Zukunft. Es ist auch nicht damit getan, dass man sagt, man lässt dann einfach mal die Bevölkerung mitreden. Haben wir auch schon alles gehabt seit den 1980er-Jahren, 1990er-Jahren.
35:08 – 35:29
Also ich meine, wir kennen das alle, die Riesenplanungsgeschichten. Und wir kennen das bis heute zu, wenn auch nur ein größeres Bauprojekt in der Stadt stattfindet, wer da alles mitsprechen kann und wie lange da die Bebauungspläne ausliegen, damit auch wirklich alle Petitionen abgewartet werden. Und am Ende, man weiß es nicht so genau.
35:30 – 35:56
Also Mitsprache ist ja ein völliger Standard. Und wir haben doch eigentlich schon gelernt, dass es so dann auch nicht funktioniert. Sondern man muss sich vielleicht Reformen noch mal ganz anders vorstellen. Und ich komme jetzt nicht mit dem Rezept um die Ecke. Ich weiß es nicht wie. Ich kann nur als Historikerin sagen, es ist alles Mögliche schon ausprobiert worden und wir haben immer noch die Reformen, die notwendigen vor uns und nicht hinter uns.
35:57 – 36:46
Christoph Lorke: Ich bin mir manchmal nicht so ganz sicher, wenn wir sagen, es ist alles komplexer geworden, ob das den damaligen Gegebenheiten der 60er Jahre wirklich Rechnung trägt oder ob wir damit nicht so ein bisschen so ein Selbstbild der damaligen Macher auch irgendwo reproduzieren, die vielleicht diese Komplexität nicht sehen konnten oder sehen wollten.
Claudia Kemper: Zumindest war sie nicht wirksam. Und das ist der entscheidende Punkt. Natürlich haben die auch in einer komplizierten und komplexen Welt gelebt, aber sie konnten gewisse komplexe und auch störende Faktoren ausschalten.
Greta Civis: Es war vielleicht einfach nicht so wichtig, wenn die Wirtin in Dingden mit ihrem Auto nicht mehr einverstanden war.
Christoph Lorke: Oder mit dem Kennzeichen zumindest des Autos. Und ich glaube auch diese Abmoderation, die ja dann in vielerlei Hinsicht eben erfolgt ist. Und das Weisungsrecht, von dem am Ende bei Streitfällen letztendlich oder auch bei Verfassungsbeschwerden, die es in NRW genauso gab wie in Brandenburg, wo letztendlich dann einfach von oben, sagen wir, oktruiert, dann eben eine Entscheidung gefällt werden musste.
36:47 – 37:21
Heutzutage, ja, ich glaube, es ist tatsächlich ein bisschen schwieriger geworden, weil eben der Mitsprachereinspruch, das Mitspracherecht, das hat es ja vielleicht auch schon irgendwie immer gegeben oder man hätte sich artikulieren können, aber ich glaube, der Anspruch, mitreden zu wollen, vielleicht auf sozialen Medien, auf entsprechenden Facebook-Gruppen und so weiter, der ist, glaube ich, nochmal ein ganz, ganz anderer. Und die Gefahr, dass also hier wirklich sehr viel Unmut entsprechend artikuliert und sich verselbstständigen kann, das ist tatsächlich neu. Und ich wüsste es auch nicht und ich bin auch froh, dass ich diese Entscheidung nicht treffen muss, bei allem Bewusstsein dafür, dass wir auch hier in diesem Land einen Reformstau haben.
37:22 – 37:51
Die Bundesrepublik der 80er Jahre einen riesengroßen Reformstau hatte und trotzdem ihre eigentlich reformbedürftigen Konzepte auf die DDR, also auf die neuen Bundesländer, letztendlich eins zu eins mehr oder weniger übertragen hat und eine Art Nachbau-West, auch eine Art normalen Null-West in den Osten, also in Nachbrandenburg und so weiter übertragen hat, was hochproblematisch war. Und dadurch diese Verschleppung letztendlich ja nochmal ein bisschen weitergelaufen ist. Und daher, wenn du also heute Projekte anstehst, bin ich froh, dass ich Historiker bin und nach hinten gucken muss und nicht nach vorne.
37:52 – 28:43
Claudia Kemper: Ein entscheidender Faktor, der heute auch nicht mehr so wirksam ist, sondern eher die ganze Sache noch komplizierter macht, ist, dass es kein, sag ich mal, gemeinsam geteiltes Wissensfundament mehr gibt, das so wirksam dann auch eine politische Entscheidung legitimieren kann. Die Phase der großen technokratisch und planungseuphorisch geleiteten Projekte ist eben in den 1970er-Jahren zu Ende gegangen. Und das hat auch erheblich damit zu tun, dass sich Wissen differenzierte. Es gab nicht mehr den allwissenden Experten, sondern auch aus ganz unterschiedlichen Bereichen, auch aus tatsächlich dem alternativen Milieu konnten Experten dann auch zum Zuge kommen und haben auch politische Entscheidungen mit beeinflusst.
38:44 – 38:50
Und nun noch mal, einige Jahrzehnte später, gibt es ja noch viel komplexere Medien, viel komplexere Kanäle, die Wissen transportieren. Was dazu führt, dass es sich immer noch weiter ausdifferenziert, was als legitimes Wissen, was als zuverlässiges Wissen, was als das wirklich wichtige Wissen als Grundlage von politischen Entscheidungen herangezogen werden soll. Das macht die Sache noch mal mit komplizierter. Denn die Notwendigkeit für Legitimation zu schaffen, dass die politische Entscheidung auf einem guten Wissen basiert - ganz banales Beispiel, Prognosen über den Klimawandel - sind noch mal sehr viel anspruchsvoller geworden. Dieses berühmte, „die Leute mitnehmen“, bedeutet dann eben auch vor allen Dingen, die Wissensbasis von dem allen auch für alle verbindlich herzustellen. Und das kann man eben nicht von oben irgendwie herbeiführen, sondern es muss einen Prozess geben.
39:51 – 40:11
Und es liegt, glaube ich, an uns allen Einzelnen, auch daran mitzuwirken, dass wir auch wieder dahin kommen, dass wir über geteiltes Wissen, geteilte Vorstellungen, geteilte legitime Verfahren auch wieder verfügen und uns das nicht noch weiter verloren geht.
40:12 – 41:04
Greta Civis: Also, es ist schwierig, euch aus der Historikerin-Komfortzone rauszuholen. Keine Rezepte, keine Prognosen. Aber wenn ich da mal vorsichtig einhake, vielleicht sowas wie eine größere Selbstverantwortung des/der Einzelnen. Sowas könnte was sein, wo es in die Zukunft hingehen könnte.
Claudia Kemper: Ich bin Historikerin und gleichzeitig ein politischer Mensch und als Letzterer spreche ich jetzt, wenn ich sage, alles, was ich weiß über die historische Gewordensein und Verlaufe von Reformen, bringt mich dazu, als politischer Mensch davon überzeugt zu sein, dass wir alle mal aufhören müssen, irgendwie zu beklagen, dass nichts weitergeht, sondern irgendwie auch gucken, wohin geht denn die Reise und was trage ich dazu bei?
41:05 – 41:19
Greta Civis: Wunderbares Schlusswort. Christoph?
Christoph Lorke: Das ist das, was Steffen Mau und viele andere eben auch sagen, aus dieser Stimmungsdemokratie so ein bisschen herauszukommen, die Ansprüche so ein bisschen auch nochmal anzugleichen an das, was machbar ist, aber dabei eben tatsächlich auch was zu tun.
41:20 – 42:02
Greta Civis: Ganz herzlichen Dank. Ich danke euch sehr für dieses gute Gespräch.
Claudia Kemper: Dankeschön.
Dieser Podcast ist eine Koproduktion zwischen dem LWL Medienzentrum für Westfalen und dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte. Das Projekt Untold Stories – Westfalens verborgene Geschichten erzählen, wird von der LWL Kulturstiftung im Rahmen des Kulturprogramms zum Jubiläumsjahr 2025, 1250 Jahre Westfalen, gefördert. Schirmherr des Kulturprogramms ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
42:03 – 42:45
Das nächste Mal besprechen wir einen Meilenstein der Selbstermächtigung. In Dortmund halten 1981 Menschen mit Behinderung das Selbstbenennung-Krüppeltribunal ab. Was dort verhandelt wurde und wieso das alles in Dortmund stattfand, das besprechen wir in der nächsten Folge von Untold Stories – Westfalens verborgene Geschichten erzählen. Übrigens, wenn ihr noch nicht genug habt von Geschichte und Geschichten aus und über Westfalen, dann hört doch mal rein bei den Kolleginnen von Preußen on Air, dem Podcast des Netzwerks Preußen in Westfalen.