Regionalgeschichte auf die Ohren
Noch in den späten 1970er Jahren gab es so gut wie keine barrierefreie oder -arme Infrastruktur. Im Gegenteil empfand die Mehrheitsgesellschaft Menschen mit Behinderung als Zumutung. Bestenfalls als zu Schützende, die dann aber auch lieb und dankbar sein sollten.
Ein gerichtliches Urteil unterstützte diese Auffassung sogar. Im sogenannten Reisegruppenurteil von 1980 wurden Reiseveranstalter zu Zahlungen von Schadenersatz verurteilt, wenn die Anwesenheit von Menschen mit Behinderung von anderen Reisenden als störend empfunden wurde. Das Wohnen in großen Heimen und die Arbeit in Werkstätten waren nahezu alternativlos.
Doch es regte sich Widerstand. Nach weiblichen, queeren, rassifizierten und jungen Menschen erstritten Menschen mit Behinderung in den frühen 1980er Jahren die gebührende öffentliche Wahrnehmung für ihr Anliegen: Ein selbstbestimmtes Leben. Ein Hotspot der Selbstermächtigung war das, Selbstbezeichnung, „Krüppeltribunal“ in Dortmund im Dezember 1981.
Und mit dabei waren
Birgit Edler: Birgit Edler
Birgit Rothenberg: Birgit Rothenberg.
Greta Civis: Ganz herzlich willkommen. Ich freue mich, dass ich Sie als meine Gäste begrüßen darf. Und vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte begrüße ich außerdem
Jens Gründler: Jens Gründler
Greta Civis: Mein Name ist Greta Civis.
Das „Krüppeltribunal“ und die Geschichte der Inklusion.
Jens, du forschst für den LWL unter anderem zu Disability History. Könntest du das Forschungsfeld kurz beschreiben?
Jens Gründler: Ja, ich kann das versuchen. Kurz gesagt lässt sich Disability History als ein Forschungsfeld beschreiben, das die Geschichte von Menschen mit Behinderung mit einem besonderen Fokus auf gesellschaftliche und kulturelle Konstruktionen untersucht, um so zu einem besseren Verständnis von Inklusion und Diversität beizutragen.
Greta Civis: Seit wann ungefähr gibt es Disability Studies, Disability History?
Jens Gründler: Das ist ja immer ein bisschen schwierig genau zu definieren, wann sozusagen, oder wer der erste war. Ich würde sagen, in den späten 70er Jahren gibt es so eine Take-off-Phase, wo das nochmal neu konzipiert wird und aus den USA Impulse kommen, die das Feld für Deutschland nochmal beleben. Und insofern würde ich sagen, in Deutschland ist das „Krüppeltribunal“ zum Beispiel einer der Startpunkte für diese Bewegung oder einer der Umschlagpunkte, wo das Feld sich auffaltet und ganz stark vertreten ist dann im Laufe der 80er und 90er Jahre und dann sich sozusagen etabliert als Forschungstradition. Und die Anfänge liegen vielleicht in den 50er und 60er Jahren in den USA.
In den späten 70ern war ja einiges los, auch in den Behindertenbewegungen weltweit. In den USA gab es große Besetzung, in der Schweiz gab es die erste Demo, auch den „Krüppelmarsch“, wenn ich das richtig im Kopf habe. Und dann in den frühen 1980er Jahren ging es in Deutschland los. Aus der Zeit habe ich ein Zitat mitgebracht aus der Luftpumpe von 1982. Da stand,
die Aussonderung wird derart perfektioniert, dass der Behinderte vom behindertengerechten Heim mit dem behindertengerechten Fahrdienst zum behindertengerechten Freizeitsport gebracht wird. Und das wird denen auch noch als Integration verkauft.
Ich fand das ganz interessant. Zum einen, man stolpert heute immer wieder über die Worte, die benutzt werden, z.B das „Krüppeltribunal“, da reden wir glaube ich auch noch über beide Teile des Begriffs. Zum anderen, dass aber eben in den frühen 80ern schon das Wort Integration auch verwendet wurde, was ja dann zu Inklusion gewandelt wurde. Fürsorge ist ein Begriff, der einem ganz viel begegnet in den frühen Texten und der heute so gut wie gar nicht mehr verwendet wird, wenn ich das richtig verstehe. Vielleicht können wir einmal kurz klären, für alle, die nicht so im Thema drin sind, der Unterschied zwischen Inklusion, Integration und Fürsorge. Möchte da einer was zu sagen?
Birgit Rothenberg: Der Begriff der Integration war Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre so ein Oberbegriff, der auch benutzt wurde von Politik und von Einrichtungen, oder zur Verfügung gestellt haben, Sondernangebote, besondere Angebote, aussondernde Angebote zur Verfügung gestellt haben für beeinträchtigte Menschen. In der Behindertenbewegung war eher der Begriff der Nicht-Aussonderung. Also wir wollen in Angeboten unter Lebensbedingungen leben, die nicht aussondernd sind. Und ich glaube, dass mit der Nicht-Aussonderung würde heute eher mit Inklusion übersetzt werden. Während Integration ist, ich gucke mal, wie ich da jemanden reinstopfen kann, ohne dass ich die Rahmenbedingungen verändere. Und entweder er passt sich da an oder er passt eben nicht gut.
Greta Civis: Ich habe auch gestaunt in der Vorbereitung, wenn man sich nochmal deutlich macht, wie das war. Ich habe einen O-Ton mitgebracht von Gusti Steiner, ihrem verstorbenen Gatten, der Kindern 1981 bei sich in der Wohnung erklärt hat, wie sich das lebt mit Rollstuhl.
Ich habe mich so in den letzten Jahren so trainiert dass ich immer nur abends auf die Toilette groß muss, denn wenn ich tagsüber groß müsste, das kann ich überhaupt nicht weil nirgendwo in Dortmund gibt es eine Toilette auf die ich draufkomme. Ich kann immer nur abends aufs Klo.
Das Video ist auch auf YouTube. Wir verlinken das in der Folgenbeschreibung. Er sagt, es gibt in ganz Dortmund keine Toilette, die er mit dem Rollstuhl benutzen kann. Das ist heute 2025 quasi unvorstellbar, dass es in einer Großstadt keine rollstuhlgerechte Toilette gibt. Ü
Birgit Rothenberg: Üppig ist das Angebot heute auch noch nicht mehr. Das geht noch mehr. Das muss man schon sehr genau wissen und sehr genau planen, damit man länger als zwei Stunden mit dem Rollstuhl was unternehmen kann.
Birgit Edler: Es gibt auch gesonderte Pläne, wo man dann die Toiletten möglicherweise einzeichnet hat und auch die Parkplätze, die behinderten Parkplätze. Also so doll ist das irgendwie nicht.
Greta Civis: Lassen Sie uns nochmal in die Geschichte gehen. Lassen Sie uns noch mal schauen, wie war das in den 70ern mit einer Behinderung zu leben? Was waren Unterschiede zu heute und wo war der größte Druck damals?
Birgit Rothenberg: Öffentliche Verkehrsmittel waren nicht zugänglich. Die Bahn nicht, die U-Bahn nicht, der Bus nicht, die Straßenbahn nicht. Man konnte eigentlich nicht fahren.
Greta Civis: Gusti Steiner beschreibt in dem gleichen Clip auch, wie er im Gepäckwagen fährt, wenn er mit der Bahn verreisen möchte.
Birgit Edler: Das ist auch heute manchmal noch so, dass die Regionalbahnen sind ja dann da, wo die Fahrräder auch sind, direkt am Klo, kann man dann sich da platzieren im Stinke-Abteil. Ist heute auch noch so.
Birgit Rothenberg: Der größte Druck war eigentlich Wohnen.
Birgit Edler: Wohnen?
Birgit Rothenberg: Wohnen oder nicht Wohnen, sagen wir mal.
Birgit Edler: Also der größte Druck, was mit dem Kuppeltribunal auch noch mal so deutlich wurde, war eigentlich überhaupt die Aussonderung. Der stramme Weg quasi von der Wiege zur Bahre in Sondereinrichtungen dann irgendwie ausgesperrt zu sein. Oder eben eingesperrt, sagen wir mal so. Und das war eigentlich der Schwerpunkt, finde ich.
Greta Civis: Also es war für die meisten Leute bedeutete das, in einer Einrichtung zu wohnen, in einer großen Einrichtung, teils mit mehreren hundert Leuten, die da auch gewohnt haben.
Birgit Edler: Ja, und meistens ja auch, wie heißen die, Wohlfahrtsverbände. Also die Caritas hat ihr eigenes System, die Diakonie hatte ihr eigenes System. Es gibt es heute auch alles noch, so ist das ja nicht.
Greta Civis: Auch der LWL war da involviert, ne?
Jens Gründler:Ja, der LWL ist im Prinzip ja für Westfalen-Lippe der überörtliche Träger von Behinderteneinrichtungen beziehungsweise finanziert die. Die Kommunen stellen über ihre Abgaben Geld zur Verfügung, damit der LWL das für sie übernehmen kann. Der LWL ist aber selber sozusagen nicht Heimträger gewesen in der Regel, sondern hat das Geld einfach böse gesagt durchgereicht an die Wohlfahrtsverbände. Zu Diakonie und Caritas kommt ja noch AWO dazu, also die Arbeiterwohlfahrt und tatsächlich ist in den 70er und 80er Jahren, während die Diskussion in der Psychiatrie ja in den frühen 70ern beginnt Fahrt aufzunehmen durch die Psychiatrieenquette, ist das für die Bereiche Menschen mit Behinderung, Menschen also mit körperlicher Behinderung oder kognitiven Einschränkungen, ist das im Prinzip nicht vorgesehen.
Und die wenigen Individuallebensmöglichkeiten und Wohnmöglichkeiten wurden dann zum Beispiel dadurch beschnitten, wie in Dortmund, dass zwar ein Fahrdienst offiziell zur Verfügung gestellt wurde, aber von den 15 Fahrten, das kann man ja in dem Tribunalbuch auch gut nachlesen, von den 15 Fahrten konnten sie aber nur zwei in Anspruch nehmen im Monat, weil eben überhaupt nicht die Kapazitäten da waren. Und die Stadt Dortmund und die politischen Vertreter auch der Meinung waren, dann muss man das halt anders organisieren. Das können die Behinderten ja selber machen.
Birgit Rothenberg: Zwei Einzelfahrten, einmal hin und dann wieder zurück.
Jens Gründler: Genau.
Birgit Rothenberg: Ein Ausflug.
Birgit Edler: Das ist auch in Münster so gewesen oder immer noch. Also jetzt ist der offizielle Fahrdienst abgeschafft worden, wo das nur als Monopol gilt. Aber an und für sich gibt es ein Budget, das ist nichts anderes, ein Budget, was dann genutzt werden kann für die Mobilität, für Menschen, die eben nicht den öffentlichen Personennahverkehr nutzen können. In Münster hat die Bewegung ja damit begonnen, dass wir auch hier in Münster Busblockaden gemacht haben, zahlreich. Also das war zumindest ein Anstoß, da zu sagen, okay, wir haben die Busse so weit umgerüstet, dass sie mit diesen Klappen versehen sind. Aber immer noch ist es nicht möglich, dass man da selbstständig einfach rein- und rausfahren kann, wie es in manchen anderen Städten mittlerweile so ist. In Bremen ist das Gott sei Dank so. Aber bei uns in Münster eben auch immer noch nicht.
Birgit Rothenberg: Was man heute sagen kann, es gibt immer noch zu wenig Rollstuhlgerechte oder barrierefreie Wohnungen, die man bezahlen kann. Aber in den 80er Jahren in Dortmund Großstadt, 650.000 Einwohner oder 700.000, was wir damals hatten, gab es drei Häuser in jeweils anderen Stadtteilen mit je sechs Wohnungen, die ein Rollstuhlfahrer nutzen konnte in so einer großen Stadt. Und ansonsten eben keine Wohnungen, es gab keine ambulanten Dienste zu dem Zeitpunkt und die Menschen waren dann entweder in der Familie bei ihren Eltern, bei ihren manchmal auch sehr alten Eltern, heute manchmal auch noch, weil es zu wenig Wohnangebote unter Wohnunterstützung gibt oder Wohnangebote für beeinträchtigte Menschen.
Greta Civis: In Altenheimen teilweise auch, oder?
Birgit Rothenberg: Und zum Teil in Altenheimen.
Greta Civis: Also junge Leute, die dann in Altenheimen unterbrechen.
Birgit Rothenberg: Junge Leute in Altenheimen, weil sie dann vielleicht sogar die Chance hatten, noch in der Stadt zu bleiben, wo die Verwandtschaft ist, die Freunde oder die Werkstatt. Oder eben sind in sehr großen Einrichtungen, die damals finanziert wurden vom Landschaftsverband. Ambulante Angebote hätte die Stadt finanzieren müssen, auch eine unglückliche Konstruktion, dann gibt es nicht so einen Anreiz eigentlich vor Ort was zu tun.
Und es gab auch im „Krüppeltribunal“ und noch in den Jahren danach, einen großen Konflikt mit einem sich neu gegründeten Verein, der so Billigheime gemacht hat, in denen auch viele Dortmunder:innen waren, wo es dann Jahre später, wo die Skandale, die eigentlich da waren, erst justiziabel wurden einige Jahre später, wo es dann auch zu Strafverfahren gekommen ist, weil es so katastrophale Bedingungen in der Einrichtung, in den Einrichtungen gab.
Jens Gründler: Dazu gibt es im LWL-Archivamt auch einen großen Bestand, den habe ich mir leider vorher nicht angucken können. Die spielen auf das Sozialwerk St. Georg Gelsenkirchen an. Tatsächlich würde ich das auch unterstreichen. Und die Strafverfahren sind aber ja hauptsächlicher wegen finanziellen Verfehlungen des Leiters durchgeführt worden und nicht wegen der katastrophalen vor allem Verhältnisse. Das kann man vielleicht nochmal deutlich machen, dass es nicht darum ging vor Gericht, dass die Menschen mit Behinderung da schlecht behandelt wurden und schlecht leben mussten, sondern dass es eigentlich darum ging, dass der Leiter sich im Zusammenspiel mit LWL-Mitarbeitern bereichert hat.
Birgit Rothenberg: Alle Skandale eigentlich, die auch wir im „Krüppeltribunal“ aufgezeigt haben eher kein öffentliches Interesse gefunden. Die Skandale die es in der Werkstatt für Behinderte gab und auch in diesen Heim sind erst dann quasi aufgegriffen worden wenn man irgendwas finanzielles nachweisen konnte. Eine Bereicherung oder eine Falschabrechnung von öffentlichen Geldern. Aber ob es den Menschen gut ging da, oder auch die Menschenrechtsverletzungen und die Körperverletzungen, die da passiert sind, Zwangssterilisation, Medikamentenversuche und so.
Greta Civis: In den 60ern noch?
Birgit Rothenberg: Auch noch in den 80ern, auch noch nach dem „Krüppetribunal“. Das auch in anderen, das war, ja, ob sie uns nicht geglaubt haben, oder es war nicht, es hatte keine Konsequenzen, es war nicht von Bedeutung.
Die Leute, die betroffen waren von Gewalt in Einrichtungen, die unzufrieden waren mit ihrer Wohnsituation, die sich eine bessere Möglichkeit zur Mobilität gewünscht haben, die ein selbstbestimmtes Leben sich gewünscht haben, wie haben die sich organisiert und gefunden? Wie funktionierte das in einer Zeit ohne digitale Netzwerke? Hat man Annoncen geschaltet, Leserbriefe geschrieben? Kannte man sich irgendwie?
Birgit Edler: Also der Ausgangspunkt war ja im Grunde die Bühnenbesetzung damals zum offizielen Eröffnung des „Jahres der Behinderten“. Und ich glaube, da bei dieser Bühnenbesetzung, wo der Hans-Dieter Hüsch der Bewegung im Grunde den Platz geräumt hat und gesagt hat, hier könnt ihr jetzt für euch reden, das war eigentlich so der Ausgangspunkt, glaube ich, für alles, was dann folgte.
Und die Mobilisierung dazu, die war ja damals eigentlich auch schon, als das Frankfurter Urteil, Sie haben es in der Einleitung gesagt, als das Frankfurter Urteil gefällt wurde, da waren wir ja alle wahnsinnig überrascht, wie viele Menschen da plötzlich zusammenkamen um zu demonstrieren
Greta Civis: Über 5000 in Frankfurt
Birgit Edler: Ja. Und das war eigentlich der Punkt wo. Ja, wir haben uns dann nach dieser Bühnenbesetzung, haben wir uns organisiert in sogenannten Orts- und Themengruppen, kann ich mich noch gut erinnern, ne, was weiß ich, Gruppe Wohnen und dann kam man eben so zusammen irgendwie in verschiedenen Städten und so. Wir hatten in Münster, haben wir den Schwerpunkt behinderte Frauen gehabt und gesetzt und so, um alles dann zu bündeln zum Ende des Jahres in diesem „Krüppeltribunal“.
Birgit Rothenberg: Ich glaube, der Ausgangspunkt, bundesweit was zusammen, also Westdeutschland, bundesweit was zusammen zu machen, das war wirklich die Demonstration gegen dieses unverschämte Reiseurteil. Also nicht gegen diese Frau, die da geklagt hatte, sondern gegen den Richter, der gesagt hat, im Namen des Volkes mache ich folgendes Urteil.
Es gab relativ viele Selbsthilfegruppen vor Ort, zum Teil nur im Stadtteil, weil man sich ja nicht bewegen konnte so einfach. Man konnte sich ja nicht irgendwie dann zentral treffen. Und es gab dann Listen, die wir vor Ort hatten. Es gab einen Behindertenkalender, der relativ viel verkauft wurde auch und der hinten eine Liste mit Adressen von Selbsthilfegruppen hatte. Und dann wurde für manche Sachen ein Zettel fotokopiert. Wenn man Glück hatte, hat man irgendjemanden, der einen unterstützt hat, der da einen Fotokopierer hatte. Und dann hat man sich getroffen und hat die Einladung gefaltet, in Briefumschläge, Adressen geschrieben, Briefmarken organisiert. War ja auch eine Geldfrage, so eine E-Mail-Liste rumzuschicken, ist ja easy. Und hat dann Treffen organisiert, verteilt. Dortmund hat mal was organisiert, Münster, Heidelberg, Frankfurt. Und dann haben wir uns da getroffen, auch mit Unterstützung von Menschen, die auch mal Leute gefahren haben.
Wahrscheinlich nicht in rollstuhlgerechten Fahrzeugen, sondern irgendwie. Das war beim „Krüppeltribunal“ dann auch. 400 Menschen waren da da aus der Bundesrepublik. Und das alles unter diesen Bedingungen, einfach Mobilitätsbedingungen, auch Kupfsbedingungen. Wobei nach der Bühnenbesetzung keine Reden, keine Ausrundung, keine Menschenrechtsverletzungen. Die Einrichtungen, die vorher Unterstützung zugesagt hatten, für Treffen zum Beispiel mit Übernachtungsmöglichkeiten, das alles eingestellt haben, weil wir da nicht lieb waren.
Greta Civis: Und trotzdem haben Sie es umgesetzt und haben es hingekriegt.
Birgit Edler: Ja, gut.
Greta Civis: War das sowieso schon geplant? Es gab so ein, oder gab es so ein, war das, also Sie haben das so beschrieben, es gab die Demo und die Gruppen gab es vorher auch schon. Und dann hat das Ganze einen Schub gekriegt. Oder stand das Tribunal eh im Raum, dass sie so etwas mal machen wollten? Und dann haben Sie gesagt, jetzt machen wir es?
Birgit Rothenberg: Es war erst der Widerstand, erst.
Birgit Edler: Ja, erst der Widerstand und dann eben, also wie gesagt, diese Bühnenbesetzung. Die hat dann im Grunde, weil wir da dann auch gesagt haben, okay, jetzt haben wir hier die Bühne besetzt, aber was heißt das jetzt? Wie geht es jetzt weiter?
Greta Civis: Um das nochmal kurz zu rahmen, das war der Festakt für das UN-Jahr der Behinderten. Sie sagen, das UN-Jahr, ich habe auch gelesen das Jahr der Behinderer
Birgit Rothenberg: Genau
Greta Civis: 1981 ist immer diese Festjahre ausgerufen von der UNI und 81 sollte es um Behinderungen gehen und der Festakt war in der Westfalenhalle in Dortmund
Birgit Rothenberg: das ist der Westfalenbezug eigentlich dass, die Bundesregierung hatte sich halt Dortmund und die Westfalenhalle ausgesucht, warum auch immer, das weiß ich nicht mehr. Und von daher haben wir uns da getroffen und haben dann auch gesagt jetzt machen wir auch das „Krüppeltribunal“ in Dortmund
Birgit Edler: Und setzen inhaltliche Schwerpunkte. Das war eigentlich so das Wichtigste. Das wir für uns beschlossen haben, wir wollen öffentlich machen in welchen Zusammenhängen wir leben und wir wollen eben klarmachen, dass wir uns nichts mehr erzählen lassen wollen, sondern das eben selbst gestalten wollen.
Also am Ende war es auch so, dass das so der Ausgangspunkt, sag ich mal, war, zu diesen Selbstbestimmt-Leben-Bewegungen oder so. Also ich finde immer noch so diese Bühnenbesetzung unter das „Krüppeltribunal“ ist irgendwie so dieses, der Beginn aus meiner Sicht, der Beginn dieser sogenannten Empower-Bewegung oder Empowerment oder wie man das heute neudeutsch nennt. Also ich finde, das war so ein ganz kräftiger Motivationsschub einfach auch, der lange anhielt.
Greta Civis: Sie haben Schwerpunkte gesetzt beim Tribunal. Wieso eigentlich Tribunal?
Birgit Edler: Wir haben angeklagt, selbstverständlich. Wir haben zu jedem, wir haben am Ende, wir hatten unsere Schwerpunkte, Wohnen und was Birgit vorhin auch schon sagte, Einrichtungen und so weiter und haben zu jedem am Ende klare Anklagepunkte mit Forderungen aufgestellt, die wir auch veröffentlicht dann haben, überall, aber auch in einem extra Büchlein, „Krüppeltribunal“. Und daran haben wir uns orientiert im Grunde. Das waren Forderungen, die wir gestellt haben, wie wir uns eben zukünftig auch leben wollen, wie wir das Leben gestalten wollen und so.
Birgit Rothenberg: Und wir haben klar gesagt, wir erleben das als Menschenrechtsverletzung und wir haben es aus der Lebensrealität heraus beschrieben und angeklagt. Wir haben also jetzt nicht irgendwelche Juristen dabei gehabt. Viele aus der Bewegung sind zwar Juristen geworden und auch Hochkarätige, die sich wirklich beteiligen, auch an Gesetzesvorhaben oder auch im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention. Aber zu dem Zeitpunkt haben wir gesagt, wir definieren das als Menschenrechtsverletzungen und haben das auch beschrieben.
Und wenn man sich die Beispiele anguckt, dann denke ich, würden Menschen heute auch sagen, das beschreibt, da werden Menschenrechtsverletzungen beschrieben. Das, was da mit Behinderten, Beeinträchtigten, damals hieß man Behindert und großgeschrieben, das war da so, aber was mit beeinträchtigten Menschen passiert.
Greta Civis: Ein Schwerpunkt war Frauen mit Behinderung, sexualisierte Gewalt gegen Frauen mit Behinderung. Ich spreche jetzt die Triggerwarnung aus, wir reden da jetzt im Folgenden drüber. Wer das Thema nicht hören möchte, spult besser etwas vor.
Wir haben hin und her überlegt, ob man das Thema jetzt noch anschneidet in diesem ganzen Blumenstrauß von verschiedenen anderen Themen, über die man alle reden kann im Kontext. Es gibt allerdings einen wirklich schönen Mitschnitt von Frau Degener vom Tribunal.
Opfer von Vergewaltigungen können alle Frauen werden. Gerade Frauen, die sich in einer hilflosen Lage befinden, sei es, dass sie allein sind, oder Mädchen, die von ihren Vätern vergewaltigt werden, oder behinderte Frauen sind oft die gewählten Opfer. Wie viele behinderte Frauen in Heimen und anderen Sondereinrichtungen zusätzlich zu den dort stattfindenden Misshandlungen vergewaltigt werden, können wir nur erahnen. Werden nichtbehinderte Frauen bereits nicht ernst genommen, so werden behinderte Frauen erst recht für unmündig erklärt. Ihnen wird meist unterstellt, dass ihre Berichte eher ihrer Fantasie als der Realität entspringen, nach dem Motto, wer will denn die schon?
Greta Civis: Diese letzten beiden Sätze, vor allem der Schlusssatz, wer will denn die schon, das hat mich an einen aktuellen Fall erinnert, und zwar den von Giselle Pellicot, wo Christina Klemm in der Süddeutschen gesagt oder geschrieben hat, was wäre denn, wenn Frau Pellicot selber darauf gekommen wäre, was hier angetan wird und als über 70-Jährige zur Polizei geht und den Fall beschreibt. Ich werde von meinem Mann sediert, ich werde anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Und ich glaube das, weil ich habe Gedächtnisausfälle, ich bin oft schusselig und ich habe Schmerzen. Wahrscheinlich hätte dieser Frau einfach niemand geglaubt, auch mit dem Argument, wer will denn die schon.
Birgit Edler: So ist es. Ich habe dem aber auch nichts hinzuzufügen.
Greta Civis: Die Erreichbarkeit von Hilfe für Frauen, die mit Behinderung die sexualisierte Gewalt erleben, ist das besser geworden?
Birgit Edler: Ja, das muss man deutlich sagen. Es ist besser geworden, weil auch die Frauenbewegung an sich, also die Frauenbewegung, die erst mal nicht die Frauen mit Behinderung mitgedacht hat, hat sich aber im Laufe der Jahre durchaus das auch sagen lassen. Und viele sind jetzt, also auch die Einrichtungen an sich, achten darauf, dass sie zum Beispiel auch behindertengerecht zugänglich sind, dass also auch behinderte Frauen in gynäkologische Praxen reinkommen, überhaupt zu Gynäkologen gehen,…
Greta Civis: Sie nicken mit dem Kopf, Frau Rothenberg.
Birgit Edler: …wie viele behinderte Frauen sich ihr ganzes Leben möglicherweise nicht bei Gynäkologen gewesen oder so. Und dass das überhaupt mal wieder Thema wird, klar, das ist deutlich besser geworden.
Wobei ich ehrlich bin, wenn ich ehrlich sein soll, habe ich jetzt aktuell einfach auch das Gefühl, dass die Stimmung deutlich auch wieder zurückschlägt irgendwie, also politisch und dass ich selber das Gefühl habe, wie die Ängste empfinden, also ja, also bei dieser politischen Situation, dieser extreme Rechtsruck, der ist auch natürlich für uns als behinderte Menschen deutlich zu spüren. So, und es gab auch schon Auswüchse. Ich war jetzt bei einem Haus der Lebenshilfe und wo auch Gewalt dann eben im Spiel war, die von außen kam und deutlich von Rechtsextremismus getragen wurde.
Also ich wollte nur den Bogen nochmal schlagen, auch zudem, dass ich finde, also dass die Stimmung an sich auch wieder rückläufig wird. Das ist so mein Erlebnis. Wenn ich gucke, also ich habe all die Jahre immer das Gefühl gehabt, wir bewegen was nach vorne. Es kommt was nach vorne, nach vorne, nach vorne. Und das ist ein bisschen so zurzeit so das Gefühl „er nicht“.
Birgit Rothenberg: Der Gegenwind ist wieder größer geworden
Greta Civis: Das wäre auch meine letzte Frage gewesen tatsächlich, danke für die Überleitung. Wenn wir mal einen Blick werfen wollen in wie ist es in noch mal 40, 50 Jahren. Sie schütteln den Kopf es ist nicht besser. Wenn sie sich was wünschen dürften wie wäre es dann?
Birgit Edler: Ach, das war ganz interessant wir haben mal so einen Kongress gemacht in Bremen weißt du das noch, warst du da auch? weiß ich nicht „Zukunftsvisionen“ haben wir da gemacht. Gut und der war jetzt, und der war jetzt irgendwie, ich weiß nicht, Anfang der 2000 oder so. Und da haben wir dann gesagt, „in 2020 wünschen wir uns“. Und dann kamen genau die Sachen raus, die wir im „Krüppeltribunal“ als Forderungen veröffentlicht haben, haben also festgestellt, im Grunde sind diese Forderungen nach wie vor an vielen Stellen hochaktuell und wir könnten sie noch wieder aufstellen.
Das heißt, ich würde jetzt auch sagen wollen, ich wünsche mir nach wie vor, dass eben keine Aussonderung mehr passiert.
Birgit Rothenberg: An dem Beispiele Gewalt gegen beeinträchtigter Frauen, gegen behinderte Frauen, da war es ja eigentlich so, dass die Wissenschaft irgendwann mal angefangen hat und hat auch das eigentlich belegt, was wir als Erfahrungswissen schon hatten und hat uns damit auch ein Stück Unterstützung gegeben. Die Frauenberatungsstellen und die Frauenhäuser, die öffnen sich, das ist schon richtig. Aber dieses Rollback, ich glaube auch, dass die UN-Behindertenrechtskonvention auch nochmal einen Schub gegeben hat in der Öffentlichkeit, weil wir anders argumentieren konnten. Unsere Inhalte sind ja gleich geblieben, aber man konnte eher sagen, ach, guck mal da, da steht es und das ist ein Gesetz und das ist ein Rechtsanspruch, das, was wir sagen.
Im Moment würde ich sagen, erlebe ich auch eher politischen Rollback, was Schule angeht, ganz massiv.
Birgit Edler: Auf jeden Fall.
Birgit Rothenberg: Was die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, was ja eigentlich auch eine Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention war, wo ich eher das Gefühl, auch für den Bereich Wohnen hätte sein können, aber wo im Moment die Menschen selber, glaube ich, bei den Menschen selber nicht das Gefühl ankommt, ich habe irgendwas, was einen Hauch besser ist durch das Bundesteilhabegesetz. Es gibt Menschen, die überhaupt keine Unterstützung finden im Bereich, wohnen auch im Bereich des Landschaftsverbandes hier.
Aber wenn ich mir natürlich wünschen könnte, wir kriegten solche Fortschritte in 40 Jahren, die ich ja nicht mehr erlebe, in 40 Jahren wie in den letzten 40 Jahren, das wäre schon mal ganz gut, wenn es nochmal so eine Welle geben würde. Wobei 40 Jahre ist eigentlich, wenn ich jetzt einem Zehnjährigen sage, ja, in 40 Jahren, da kannst du dich gut bewegen, dann denkt der auch, die Alte spinnt. 40 Jahre.
Greta Civis Jens, willst du auch was dazu sagen?
Jens Gründler: Ich glaube, dass eins der zentralen Probleme ist, dass wir immer noch eine Leistungsgesellschaft sind, die ganz massiv an Leistung sich orientiert, also an persönlicher Leistungsfähigkeit. Und dass wir im Moment in einer Situation sind, wo es an ganz vielen gesellschaftlichen Bruchstellen knirscht. Und einer davon ist eben die Frage der finanziellen Ausstattung. Und das ist sozusagen die Gretchen fragen „Für wen geben wir Geld aus“? Und die gesellschaftliche Antwort ist leider so, dass sie immer sagen, wir sparen da wo es am wenigstens voranbringt, im Denken von Leistung. Und das ist, glaube ich, ein Grundproblem, das vielleicht in 40 Jahren auch nicht oder wahrscheinlich auch nicht gelöst werden wird, so schlimm das ist.
Und man merkt das ja auch in ganz vielen anderen Bereichen, nicht nur bei körperlich, also bei Menschen mit körperlicher Behinderung und kognitiver Einschränkung, sondern eben auch im Bereich Psychiatrie, im Bereich Migration, überall da, wo man denkt, man hat eine Stellschraube und will das Geld nicht investieren, egal welche Zukunftsperspektiven das eröffnet. Ich habe immer das Gefühl, das ist immer noch der Knackpunkt an der ganzen Sache. Die Gesellschaft wäre vielleicht bereit, viel mehr Inklusion auf sich zu nehmen, wenn es nicht von allen Seiten immer den Druck gäbe, sich sozusagen leistungsgerecht anzupassen und immer Leistung zu liefern.
Aber das ist was, wo wir in der Zukunft weiter daran arbeiten müssen. Und da ist, glaube ich, auch eine Stärke von Historikerinnen und Historikern, die das zumindest nochmal historisch beleuchten können, dass diese Norm so alt ist. Und die immer wieder nur so teilangebrochen wird. Das Teilhabegesetz, die Behindertenrechtskonvention, das sind ja nur so Anbrüche, die die Sollbruchstellen offenlegen, aber eben sozusagen nicht wirklich lösen am Ende des Tages.
Greta Civis: Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch bei Ihnen allen dreien. Sehr schön, dass Sie da waren.
Birgit Rothenberg, Birgit Edler, Jens Gründler: Dankeschön.
Und falls ihr jetzt auch noch viel mehr über die Geschichte der Kämpfe wissen möchtet, die Menschen mit Behinderungen führten und führen, dann gibt es zum Beispiel in Dortmund beim Verein Mobile das Archiv der Behindertenpolitischen Selbsthilfe und zum Stöbern von zu Hause den digitalen Bestand des Archiv Behindertenbewegung. Wir verlinken in der Folgenbeschreibung und wünschen viel Spaß bei der Recherche.
Das nächste Mal geht es bei Untold weiter mit einem Menschheitsthema, dem Scheitern. Thomas Küster und Thomas Spohn erzählen von gescheiterten Projekten in Westfalen, abgerissener Architektur und einer gescheiterten Stadt bei Dorsten.
Regionalgeschichte auf die Ohren. Untold Stories. Westfalens verborgene Geschichten erzählen. Dieser Podcast ist eine Koproduktion des LWL Medienzentrums für Westfalen und des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Das Projekt wird von der LWL-Kulturstiftung im Rahmen des Kulturprogramms zum Jubiläumsjahr 2025 1250 Jahre Westfalen gefördert. Schirmherr des Kulturprogramms ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.