Wider das Verdrängen: Aufarbeitung von NS-Verbrechen im Sauerland 1945
Im März 1945 – kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges – verübten Waffen-SS und Wehrmacht zwischen Warstein und Meschede im Sauerland eines der größten Kriegsendphaseverbrechen in Deutschland außerhalb von Gefängnissen und Konzentrationslagern. Exekutionskommandos ermordeten an drei Stellen im Arnsberger Wald 208 polnische und russische Zwangsarbeiter:innen, Jugendliche und Kinder. Seit 2015 erforscht Dr. Marcus Weidner, wissenschaftlicher Referent am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, das Verbrechen.
Nachdem sich die militärische Situation im Ruhrgebiet und im südlichen Westfalen zugespitzt hatte, fanden zwischen dem 20. und 22. März 1945 die Mord-Exzesse statt. Tausende Zwangsarbeiter:innen versuchten, den an Heftigkeit zunehmenden Kampfhandlungen Richtung Osten zu entfliehen, – sei es einzeln, in kleinen Gruppen oder in organisierten Trecks. Im nördlichen Sauerland stauten sich diese Trecks, sodass Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten knapp waren. Bei Suttrop, heute ein Stadtteil von Warstein im Kreis Soest, richtete im Oktober 1944 Dr. Hans Kammler, Kommandeur der aus Wehrmacht und Waffen-SS gebildeten „Division zur Vergeltung“, seinen Stab ein. Hans Kammler nahm, so eine spätere Zeugenaussage, die Zwangsarbeiter:innen im Umfeld seines Hauptquartiers in Suttrop als Sicherheitsrisiko wahr. Schließlich gab er am 20. März 1945 den Befehl, die „Zahl der Fremdarbeiter kräftig zu dezimieren“. Im Langenbachtal bei Warstein wurden 71 Menschen – vor allem Frauen – umgebracht. Bei Eversberg erschoss und verscharrte ein Exekutionskommando auf einer Wiese 80 Zwangsarbeiter:innen. In der Waldgemarkung „Im Stein“ bei Suttrop erschoss ein Kommando 57 Zwangsarbeiter:innen. „Ich untersuche unter anderem anhand von Dokumenten aus Lokalarchiven, dem Bundesarchiv, den Nationalarchiven in London und Washington den historischen Hintergrund, die Tathandlungen, die Prozesse und den Umgang mit den Mordopfern und der Tat nach 1945, also die Erinnerungskultur des Massakers“, erklärt Marcus Weidner und fügt hinzu: „Die so gewonnenen Informationen dienen nicht nur einer umfassenden Dokumentation der Ereignisse in Buchform, sondern werden auch für ein erinnerungskulturelles Projekt, die Neugestaltung des Friedhofs, auf dem die Mordopfer ruhen, eingesetzt.“
Ein besonderes Anliegen ist es außerdem, die Verbrechensorte exakt zu lokalisieren, um sie zukünftig im Rahmen eines Erinnerungspfades zu kennzeichnen. „Wir wollen die Ereignisse als Orte der Zeitgeschichte erfahrbar machen“, betont Marcus Weidner. Das setzt jedoch voraus, dass die Tatorte archäologisch untersucht werden, um die historischen Abläufe zu verifizieren und Hinterlassenschaften der Opfer zu sichern. Deshalb arbeitet der Historiker seit 2018 mit Wissenschaftlern der LWL-Archäologie für Westfalen zusammen. Die nach und nach unternommenen Ausgrabungen an allen drei Tatorten zeugen nicht nur von den letzten Stunden im Leben der Ermordeten, sondern geben auch Aufschlüsse über den Ablauf der grausamen Taten. Zusammen mit ehrenamtlichen Sondengänger:innen entdeckten die LWL-Archäolog:innen in der Erde verscharrte Reste der persönlichen Habseligkeiten der Zwangsarbeiter:innen. Das Fundgut enthält beispielsweise Gebrauchsgegenstände wie Geschirr und Besteck, Schuhe, Teile der Kleidung oder ein Gebets- und ein Wörterbuch auf Polnisch. Die Forscher stießen auch auf die Spuren der Täter. Sie fanden unter anderem Patronenhülsen, die belegen, wo und wie die Nationalsozialisten die Opfer erschossen haben. Im Mai 2021 konnte ein sowjetisches Ehrenmal für die Mordopfer geborgen werden, das dort 1964 vergraben worden war, um die Erinnerung zu verwischen. „Die Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen verdeutlichen, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Geschichtswissenschaft ist. Die Befunde und Objekte können dadurch historisch eingeordnet werden. Diese systematischen Forschungen sind bislang bei NS-Tatorten in Deutschland einzigartig“, erläutert LWL-Archäologe Dr. Manuel Zeiler.
Erinnerungskultur in der Nachkriegszeit
Die Erschießungen auf der Eversberger Kuhweide blieben zunächst geheim. Im November 1946 erhielt die englische Militärbehörde einen anonymen Hinweis. Die Toten wurden unter Aufsicht der Alliierten Ende März 1947 exhumiert und auf dem Waldfriedhof „Fulmecke“ in Meschede beigesetzt. Von den Morden bei Suttrop und Warstein hingegen hatten die amerikanischen Truppen bereits kurz nach der Befreiung Ende April 1945 erfahren. Der US-Kommandant befahl daraufhin ehemaligen NSDAP-Mitgliedern aus beiden Orten, die Leichen zu exhumieren. Die gesamte Bevölkerung einschließlich der Kinder musste an den Toten vorbeiziehen. Danach wurden die Leichen wiederum von den ehemaligen „Parteigenossen“ nahe der Erschießungsstellen bestattet. Um das Verbrechen für die Nachwelt zu dokumentieren, fotografierten und filmten die Amerikaner den gesamten Vorgang. 1964 bettete man die ermordeten Zwangsarbeiter aus Suttrop und Warstein auf den Waldfriedhof „Fulmecke“ in Meschede um – bis auf sieben Leichen, die man in Suttrop bis heute nicht mehr finden konnte. Irreführende Inschriften auf den Erinnerungssteinen verschleierten den Bezug zur Mordtat. „Die Reaktion vor Ort auf die Massaker fiel im gesellschaftlich-politischen Klima der Nachkriegs- und Adenauer-Zeit überwiegend abwehrend aus“, schildert Marcus Weidner und ergänzt: „Entsprechend verlief die justizielle Aufarbeitung. Sie begann erst 1957 vor dem Arnsberger Landgericht und mündete zunächst in einem als skandalös niedrig empfundenen Urteil. Die – nach erfolgreicher Revision – vor dem Hagener Landgericht erneut durchgeführte Hauptverhandlung endete unter anderem mit dem Urteil ‚lebenslänglich‘ für den Haupttäter.“
Autorin: Kathrin Nolte
Weitere Informationen über die Verbrechen im Sauerland
Zur Podcast-Folge „Man hat alles getan, um die Taten zu verschleiern“
Zum Dossier der LWL-Pressestelle „NS-Verbrechen an Zwangsarbeiter:innen im Sauerland 1945“