„Die Erinnerungen und Fotos kommen zu ihrem Ursprungsplatz zurück“
Das kleine Fotoalbum mit einem dunkelroten Einband aus Leinen beinhaltet 64 Schwarz-Weiß-Aufnahmen und zehn Leerstellen, die noch durch Fotoecken markiert sind. Auf den feinsäuberlich auf schwarzem Karton geklebten Fotos stehen handschriftliche Notizen. Überall sind Gebrauchsspuren zu sehen. Das ist nicht verwunderlich, denn das Album ist 77 Jahre alt und erzählt die Geschichte von einer ukrainischen Zwangsarbeiterin und einem ukrainischen Kriegsgefangenen aus dem Stalag 326 (VI K) Senne (Stammlager) in Schloß Holte-Stukenbrock.
Alexandra Iosivowna Kobsar verschleppten die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs nach Ostwestfalen-Lippe, nur einige Kilometer vom Stalag 326 entfernt, um
NS-Zwangsarbeit in der Möbelindustrie zu leisten. Nach ihrer Befreiung 1945 in Wiedenbrück bestellte das Sowjetkomitee der Veteranen des Stalag 326 sie ein, um in der Fotowerkstatt zu arbeiten. Alexandra Iosivowna Kobsar duplizierte Wehrmachtsfotografien vom Lager und Abzüge von sowjetischen Fotografen nach der Befreiung, der Einweihung des Ehrenfriedhofes und der Repatriierung. Die erstellten Fotoalben waren für die Alliierten-Delegationen bestimmt, die an der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof in Potsdam teilnahmen. Als Erinnerung an ihre Arbeit bekam Alexandra Iosivowna Kobsar das rote Fotoalbum geschenkt. Die Aufnahmen zeigen sie unter anderem bei ihrer Tätigkeit im Fotolabor. Ihr späterer Ehemann Nikolaj Wasiljewitsch Tschumak durchlief das Kriegsgefangenenlager Stalag 326. Bei der Befreiung des Stalag 326 am 2. April 1945 weilte er in einem Lager in Neubrandenburg. Nikolaj Wasiljewitsch Tschumak galt als sowjetischer Kriegsgefangener, als Spion und Verräter und durchlebte staatliche Repressionen. Nach ihrer Rückkehr in die Ukraine nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lernten sich die Zwangsarbeiterin und der Kriegsgefangene 1946 kennen und heirateten. „Es ist wichtig zu wissen, dass das Fotoalbum unmittelbar mit meiner Mutter und nicht mit meinem Vater zu tun hat. Mein Vater bekam es erst in der Ukraine in die Hände. [...] Meine Eltern begegneten sich im Krieg nie”, erklärt die Tochter der beiden mittlerweile verstorbenen Zeitzeug:innen, Ludmila Mischke, die heute mit ihrer Familie in Berlin lebt. „Und, doch gab es in Deutschland einen Ort, der für die beiden eine schicksalhafte Bedeutung hatte – das Stalag 326.“
Das Kriegsgefangenenlager Stalag 326 (VI K) in Schloß Holte-Stukenbrock war von 1941 bis 1945 mit mehr als 300.000 Menschen zentraler Bestandteil eines Lagersystems für überwiegend sowjetische Kriegsgefangene, das unter anderem den größten industriellen Ballungsraum Deutschlands – das Ruhrgebiet – mit Arbeitskräften versorgte. Gemessen an der Gesamtzahl der Gefangenen, die das Lager durchlaufen haben, war es das vermutlich größte im Deutschen Reich. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) errichtet zusammen mit Partnern in Stukenbrock-Senne am Ort des ehemaligen Lagers eine „Gedenkstätte mit nationaler Bedeutung“. Das Projekt unterstützen neben dem LWL das Land NRW, der Kreis Gütersloh, die Stadt Schloß Holte-Stukenbrock und der Stalag-Förderverein.
Für die historische Aufarbeitung und die Erinnerungskultur an das Kriegsgefangenenlager sind Ego-Dokumente wie das Fotoalbum von großer Bedeutung. Nachdem Jens Hecker, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte tätig ist, von der Existenz des Albums erfuhr, machte er sich auf den Weg nach Neubrandenburg, wo die Fotografien im Archiv aufbewahrt wurden. Gleichzeitig nahm Jens Hecker Kontakt zu Ludmila Mischke auf, die der Gedenkstätte Stalag 326 das Fotoalbum nach mehreren Gesprächen schließlich übergab. „Das Album ist zum einen ein Ego-Dokument einer ukrainischen Zwangsarbeiterin mit dem Arbeitseinsatz in der Region und einem ehemaligen Kriegsgefangenen aus dem Stalag 326. Das allein ist wichtig, um den verfolgten und ausgebeuteten Menschen nicht nur einen Namen, sondern auch eine Geschichte zu geben“, betont Jens Hecker. „Zum anderen führen uns die Fotos vor Augen, dass sich die Erinnerungs- und Gedenkkultur nicht auf die Region Ostwestfalen, Westfalen oder Nordrhein-Westfalen beschränkt. Erinnerungen werden auch und besonders in Osteuropa und all den Orten, in denen die Familien der NS-Verfolgten leben, überliefert.“
Durch private Ego-Dokumente wie das Fotoalbum werden die post-sowjetischen Akteur:innen der Erinnerungskultur sichtbar. Alexandra Iosivowna Kobsar schildert als weibliche NS-Verfolgte die direkte Nachkriegszeit des Stalag 326. „Das erweitert unser Wissen enorm. Die Forschung an und mit Gedenkstätten wendet sich immer mehr den damaligen Akteur:innen zu“, erläutert Jens Hecker und fügt hinzu: „Hier materialisiert sich auf besondere Weise das, was die Arbeit in der bisherigen Gedenkstätte und den Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock ausgezeichnet hat: Eine Brücke zu den ehemaligen Kriegsgefangenen und deren Nachkommen aufzubauen, um sich solidarisch mit ihren Geschichten und Schicksalen zu zeigen.“
Derzeit wird das Fotoalbum noch nicht ausgestellt. In der neu konzipierten Gedenkstätte sollen fotografische Quellen einen Sammlungsschwerpunkt bilden. Es wird zu diskutieren sein, ob und wie das Album in der Dauerausstellung seinen Platz findet. Für die Angehörige Ludmila Mischke ist es beruhigend zu wissen, dass das Fotoalbum Teil der wissenschaftlichen Erinnerungskultur des Lagers ist: „Ich freue mich sehr darüber, dass das Fotoalbum meiner Eltern hilfreich ist. Hätten meine Eltern noch gelebt, hätte diese Tatsache ihre Herzen ergriffen. Es ist mir nicht leichtgefallen, das Fotoalbum aus der Hand zu geben. Es gehört zu meiner Familiengeschichte. Jetzt aber weiß ich, dass es gut und richtig ist. Der Kreis hat sich geschlossen. Und die Erinnerungen und Fotos kommen zu ihrem Ursprungsplatz zurück.”
Autorin: Kathrin Nolte
Zum Dossier der LWL-Pressestelle „Gedenkstättenausbau des Kriegsgefangenenlagers Stalag 326“