Gastbeitrag
Vom Nachdenken bis zum Veröffentlichen: Die Arbeit der Historikerin und des Historikers
1. Das Nachdenken
Die Arbeit von Geschichtswissenschaftler:innen erscheint auf den ersten Blick geprägt von Phasen des Nichtstuns. Meine Tochter Emma betrachtet mich dann kritisch und meint, wie kann denn Luftlöcher starren Arbeit sein? Nun, die Antwort ist eindeutig: Nachdenken ist Arbeit. Und wer es nicht glaubt, der kann es ja mal versuchen.
Als Historiker:in macht man sich in einem ersten Schritt Gedanken darüber, ob das, was man wissen will, eigentlich interessant ist. Dazu liest man erst einmal viel: Bücher und Aufsätze, manchmal auch im Internet, hört Podcasts oder Radiobeiträge, schaut Dokumentationen oder liest manchmal auch nur einen Roman. Und da man in der Regel allein nicht schlau genug ist, redet man schon in dieser ersten Arbeitsphase ständig mit Kolleg:innen, präsentiert die eigenen Gedanken und nimmt die kritischen Nachfragen als wertvolle Hinweise an, dass man noch mehr Nachdenken muss. Und gleichzeitig merkt man in dieser Phase auch zügig, ob bereits jemand anderes an der gleichen Frage interessiert war und sie sogar schon bearbeitet hat. In diesen, Gott sei Dank nicht allzu häufigen Fällen, geht man wieder zum ersten Schritt zurück.
2. Archivalien heben und Literatur bearbeiten
Ein zentraler Baustein der Arbeit für Geschichtswissenschaftler:innen ist das Finden und Bearbeiten von Archivalien und Forschungsliteratur. Bei der Recherche ist man fast nie auf sich allein gestellt. Die Archive stellen die Bestände – Dokumente, Schriftstücke, Fotos und Tonbandaufzeichnungen – zur Bearbeitung zur Verfügung. Zuvor sind die Materialien schon von den Archivar:innen erfasst, sortiert und verschlagwortet worden. Manchmal findet man auch bei Privatpersonen, in Behörden oder auf dem Flohmarkt wichtige Archivalien wie Feldpostbriefe. Aber in der Regel arbeiten Historiker:innen mit aufbereiteten Beständen. Die erfolgreichsten Kolleg:innen im Archiv nennt man liebevoll „Trüffelschweine“, weil sie jedes noch so versteckte Dokument finden.
Ganz Ähnliches wie für die Archivalien gilt für die Literaturrecherche. Hat man dann alles beisammen, beginnt die Lesephase. Und dann gilt wieder: darüber nachdenken. Denkt man an eine Pose, wie man sie bei ‚Was bin ich‘ zeigen könnte, dann wäre das wohl ein vorgebeugter Mensch, der die eine Hand zum Umblättern bewegt und mit der anderen Hand Notizen macht.
3. Das Schreiben
Die dritte Phase der Arbeit der/des Historiker:in ist das Aufschreiben der Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse sind allerdings oft komplex, manchmal verworren, häufig ambivalent. Ob man daher so kompliziert schreiben sollte, dass nur Hohepriester und andere Eingeweihte die Texte verstehen können, steht auf einem anderen Blatt. Die Diskussion darüber, wie man wissenschaftlich schreibt, hat eine lange Tradition. Gewandelt hat sich der Stil aber erst in den vergangenen Jahrzehnten. Die Erkenntnisse nicht mehr als Geheimwissen zu betrachten und allgemein verständlich darzulegen, das erfordert ganz eigene Fähigkeiten. Und es gelingt durchaus nicht immer, wenn auch immer häufiger. Schließlich, so das tragende Argument, schreiben Historiker:innen ja nicht für sich selbst, sondern die erarbeiteten Erkenntnisse liefern Einsichten, die auch für die Gesellschaft heute wertvoll sein können.
4. Das Abhängenlassen
Erkenntnisse sind wie – die Vegetarier:innen mögen mir das Bild verzeihen – gute Schinken oder Weine. Man muss sie hängen lassen, liegen lassen, sie atmen lassen; und man muss immer wieder probieren. Dann kann man korrigieren und nachjustieren, sich mit anderen über sie austauschen und beraten. Nur dann entfalten Erkenntnisse und Texte ihr volles Potenzial. Das bedeutet, Historiker:innen brauchen ein gerüttelt Maß an Geduld und Ruhe, und sie brauchen Zeit. Leider wird auch diese in Gesellschaft und Wissenschaft ein immer rareres Gut. Und das ist schlecht, denn die Erkenntnisse gerade auch der Historiker:innen müssen reifen.
5. Das Veröffentlichen
Der letzte Arbeitsschritt ist die Veröffentlichung und ihre Vorbereitung. Wenn man Glück hat, dann spendiert der Verlag ein Lektorat, der die vielen, nur dem Verfassenden selbst verständlichen Passagen überarbeitet. Als Verfasser:in bekommt man erst einmal Korrekturfahnen, die man durchsehen muss, um sich über die Korrekturwünsche des Lektorats zu einigen. Nach der Einigung geht das Buch zum Setzen und man bekommt noch einmal den Text als sogenannte Druckfahne – also prüft man noch mal alles. Schließlich will man ja nicht, dass eine Seite oder eine Überschrift fehlt. Dann geht das Ganze in die Druckerei und mit ein wenig Glück hat man am Ende dieses Prozesses ein gut lesbares, verständliches Buch, das das Familienbudget nicht über die Maßen belastet und einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird.
6. Wie bitte?
Hört sich an wie der beste Job der Welt? Tja, das ist er auch. Jedenfalls für mich.
Der Autor des Gastbeitrags Dr. Jens Gründler arbeitet als wissenschaftlicher Referent im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte.