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12. Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: „Die Reformen waren ein Weg voller Widerstände“

• 0:09 - 0:49

Kathrin Nolte: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“. Dieses Mal sprechen wir über den Wandel von Anstalten. Seit Ende der 1960er-Jahre standen Anstalten wie Psychiatrien sowie die Heime der Jugendhilfe und des Behindertenwesens in der Kritik. Sie galten als starres Instrument der Sozialpolitik, als totale Institution und als Widerspruch zu zeitgemäßen Lebensformen. Mit dem jetzt veröffentlichten Sammelband „Das Ende der Anstalten“ bietet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte erstmals einen systematischen Überblick über den Wandel und die Reform dieser Einrichtung seit den 1970er-Jahren.

• 0:50 - 1:12

Bevor wir starten, möchte ich uns kurz vorstellen. Mein Name ist Kathrin Nolte und ich verantworte die Wissenschaftskommunikation im Institut. Mein heutiger Interviewgast Dr. Wilfried Rudloff ist Herausgeber des Bandes. Herr Rudloff, wie veränderte sich der gesellschaftliche Umgang mit Hilfebedürftigen und Randgruppen?

• 1:13 - 1:54

Wilfried Rudloff: Ja, man kann vielleicht anfangen, indem man kurz auf die Verschiebungen der Semantik hinweist. Die Begrifflichkeit ändert sich. Das ist zwar nur ein Oberflächenphänomen, aber schon bezeichnend. Man spricht jetzt nicht mehr von Krüppeln, wie das bis dahin noch durchaus üblich war, sondern von Körperbehinderten. Man spricht nicht mehr von Irren, sondern von psychisch Kranken. Also schon auf dieser sprachlichen Ebene deutet das eine gewisse Sensibilisierung für die Lebensbedingungen, für die Bedürfnisse, für die Befindlichkeit von sogenannten Randgruppen an und Randgruppen sind überhaupt als Begriff erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten in diesen späteren 1960er-Jahren.

• 1:54 - 2:33

Im Laufe der 1960er-Jahre steigt die Sensibilität dafür, dass es nicht nur die klassischen Kerngruppen, die gut organisierten gewerkschaftlichen Kerngruppen des Sozialstaates gibt, sondern auch ein ganzer Kranz von sozial schwachen Außenseitergruppen, für die eben der Randgruppen Begriff ein Mantelbegriff ist. Die anders als diese Kerngruppen des Sozialstaates schwach organisiert sind, Mühe haben, für ihre Interessen und Bedürfnisse Gehör zu finden und die deshalb schnell aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit und auch der Fachwelt verschwinden.

• 2:33 - 3:30

Und das beginnt sich schon in den 1960er-Jahren zu ändern. Das hat eine Reihe von Gründen. Der erste Grund könnte sein, dass es einen Generationenwechsel gibt in den Einrichtungen selbst, auch in den sogenannten Hilfe-Professionen, also den Sozialarbeitern, Sozialpädagogen entwickelt sich nun so etwas wie eine kritische Binnensicht auf diese Einrichtungen. Und das hängt wiederum damit zusammen, dass die ältere Generation, die ihre berufliche Sozialisation noch vor dem Weltkrieg und zum guten Teil noch in der Weimarer Republik erfahren hat, nun allmählich abtritt und eine neue, in der Bundesrepublik aufgewachsene Generation von Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Sozialwissenschaftlern zunehmend die Bühne betritt, die eben schon in dieser Nachkriegswelt sozialisiert worden sind.

• 3:30 - 4:00

Und diese Generation befördert jetzt oder unterstützt einen Prozess, den wir die soziale Konstruktion sozialer Probleme nennen. Also das heißt, soziale Probleme, so wie wir sie wahrnehmen, sind nicht statisch, sondern sind abhängig vom Wandel und von der ständigen Weiterentwicklung, der Veränderung von gesellschaftlichen Leitbildern, von Werte-Hierarchien und Wahrnehmungsmustern. Und die verschieben sich jetzt.

• 4:01 - 4:44

Das ist ein langer Prozess, der erstreckt sich von den 1960er- bis in die 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre. Man kann das sehr schön darstellen am Beispiel der Menschen mit Behinderung, die früher übrigens Behinderte genannt wurden und wo wir heute den Begriff des Menschen mit Behinderung vorziehen, weil es nun in erster Linie eben ein Mensch ist und nicht ein Behinderter. Und die frühere Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung war: Das sind Menschen mit Defiziten, mit medizinischen Defiziten, die sozusagen geschützt werden müssen vor der ihnen feindlichen Umwelt und die deshalb in Schutzräume sozusagen ausgegliedert werden.

• 4:44 - 5:27

Und nun verändert sich dieses in der Arbeit, das ist ein Prozess, der erst in den 1980er-, 1990er-Jahren stark wird. Das Bild und die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in dem Sinne, dass man nun mehr auf die sozialen Verhältnisse Acht gibt. Also Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert durch ihre Umwelt, indem die Umwelt rücksichtslos konstruiert ist. Und dadurch verändert sich das Bild von Behinderungen. Diese sozialen Konstruktionselemente, die in dem Fall mehr von den medizinischen Defiziten weggehen und hinlenken auf die sozialen, gesellschaftlichen Umstände, die die Menschen behindern.

• 5:27 - 5:33

Das ergibt in dem Ganzen eine Verschiebung in der sozialen Konstruktion sozialer Probleme.

• 5:33 - 5:44

Kathrin Nolte: Ist das das, was wir heute auch unter Inklusion verstehen? Dass jeder an der Gesellschaft und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann?

• 5:45 - 6:27

Wilfried Rudloff: Ja, das kann man als eine Fortentwicklung dessen verstehen, was früher Integration genannt wurde. Inklusion meint noch ein bisschen mehr. Aber damals war der Leitbegriff gesellschaftliche Integration. Also Menschen sollen nicht in Schutzwänden ausgegliedert werden, in abgesonderte Anstalten, sondern sie sollen in der Gesellschaft leben. Sie sollen zurück eingegliedert werden in die Gesellschaft. Das ganz wichtige Bundessozialhilfegesetz von 1960 spricht deshalb auch von Eingliederungshilfen, die den Menschen mit Behinderung gegeben werden sollen.

• 6:28 - 7:06

Und das führt über von diesem veränderten Bild der Randgruppen, von denen wir hier sprechen. Führt das gleich weiter zu einer Infragestellung der überkommenen Hilfsangebote des Sozialstaates und der Suche nach Alternativen, die angemessen sind und angepasst sind auf dieses neue Bild von Randgruppen. Die sollen gemeindenah, also in die Gemeinde integriert, nicht außerhalb der Gemeinde. Sie sollen niedrigschwellig sein, also nicht eine hohe Schwelle aufbauen, wie Anstaltsmauern, sondern für jeden zugänglich und einladend, um Hilfe zu ersuchen.

• 7:06 - 7:55

Sie sollen eben integrativ sein und sie sollen ambulant sein. Sie sollen nicht gleich dazu führen, dass jemand in eine Anstalt verbannt wird, sondern dass er auch aus dem Rahmen seiner Familie Hilfsangebote annehmen kann. Also ambulant ist ein ganz wichtiges Stichwort und solche Angebote, ich nehme mal jetzt das Beispiel der Jugendhilfe, das wir sehr ausführlich behandeln, bestehen dann eben nicht nur in den großen Anstalten mit Hunderten, manchmal Tausenden von Insassen, Heimzöglingen, wie man damals oft noch sagte, sondern in Außenwohngruppen, in Kleinstheimen, in sozialpädagogisch betreutem Einzelwohnen, in Jugendwohngemeinschaften, auch in Pflegefamilien, die jetzt wieder verstärkt gesucht werden.

• 7:55 - 8:29

Und es beginnt eben der Ausbau der ambulanten Hilfen, wie zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen oder die sogenannte sozialpädagogische Familienhilfe, wo die Minderjährigen möglichst in ihrem gewohnten Lebensraum belassen werden sollen und die innerfamiliären Sozialisationsbedingungen verbessert werden sollen. Also nicht die Jugendlichen sofort in eine Anstalt abgeschoben werden. Also dieses alles ergibt ein sogenanntes Rahmenpanorama, von dem der Band handelt.

• 8:30 - 9:04

Und dazu gehört dann auch, dass der Sozialstaat teilweise neu gedacht wird. Bisher auch bedingt durch die sozusagen die Verwerfungen der Nachkriegszeit standen ganz stark die materiellen Leistungen des Sozialstaats, sprich die Geldleistungen im Vordergrund. Und nun, in den 1960er-Jahren, fängt man darüber an nachzudenken: Der Sozialstaat muss ja auch noch was anderes leisten. Das nennt man soziale Dienste. Also die persönliche Hilfe, die sachlichen Leistungen wie Infrastrukturen.

• 9:05 - 9:09

Das tritt jetzt alles stärker ins Bewusstsein, auch der politisch Handelnden.

• 9:10 - 9:20

Kathrin Nolte: Jetzt haben Sie gerade schon zwei Gruppen angesprochen, nämlich Menschen mit Behinderung und Jugendliche. Welche betroffenen Gruppen nehmen denn die Autorinnen und die Autoren des Sammelbandes in den Blick?

• 9:20 - 10:03

Wilfried Rudloff: Ja, wir haben den Band in vier große Blöcke eingeteilt, die erste Gruppe, die auch momentan in der Diskussion wieder eine große Rolle spielt. Das ist die Heimat und die Jugend, die dann die aktuelle Missstandsdebatte mit den Missständen in den Heimen, die sich ja auch auf die Aufarbeitung der zum Teil unmenschlichen Verhältnisse und der gewalthaltigen und auch sexualisierten Erziehungspraktiken in diesen Heimen, den Missständen dort in der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre auch darüber hinaus beziehen und zeigt, dass es da eine gewisse zyklische Wiederkehr von Problemen gibt.

• 10:03 - 10:43

Wir hatten diese Diskussion schon mal in den 1920er-, 1930er-Jahren. Wir hatten sie Anfang der 1970er-Jahre und wir haben sie jetzt wieder. Also solche Anstalten sind auch immer Gefährdungsherde für Missbrauch, auch um das Entstehen von unmenschlichen und unwürdigen Lebensverhältnissen. Und wir nehmen das für die Jugendhilfe und die Reformbemühungen in zwei auf die Bundesrepublik bezogenen, aber auch in einem Seitenblick auf die DDR gerichteten Referaten und in die Untersuchung mit hinein und schauen dort, wie sich die Infrastrukturen verändern und welche Triebkräfte da am Werk sind.

• 10:43 - 11:30

Der zweite Block sind, wie gesagt, die Menschen mit Behinderung. Dort analysieren wir sowohl das Innenleben dieser Gegenwelt Anstalt, die eine sozusagen ein Schonraum, aber auch eine Gegenwelt gegen die Ansprüche und Anforderungen der sogenannten normalen, alltäglichen Lebenswelt der anderen Bürger sind. Und wir untersuchen an einem Fallbeispiel, nämlich Dortmund, wie der mühsame Prozess der Entstehung ambulanter Unterstützungsangebote auf den Weg gebracht wird, auch durch die Selbstorganisation der Betroffenen, hier der körperlich Behinderten. Die Voraussetzungen, die erst ermöglichen, dass ein selbstständiges, eigenständiges Wohnen jenseits der Anstalten möglich wird.

• 11:31 - 12:13

Der dritte Block beschäftigt sich mit den Psychiatrien, mit der Psychiatrie, der psychiatrischen Versorgung und der Psychiatriereform, das sind große Schlagworte, die seit Mitte der 1970er-Jahre eine bedeutende Rolle spielen und wir untersuchen hier die Konzepte, die da zum Tragen kommen, zum Teil recht radikal sind, von einer Antipsychiatrie getragen sind. Wir befassen uns auch hier wieder mit einem Seitenblick nach Großbritannien, genauer auf das schottische Glasgow, also den Prozess einer Anstaltsschließung und der mühsamen Entstehung von ambulanten Strukturen auch dort.

• 12:14 - 12:48

Ein Beitrag befasst sich mit Fotos der Psychiatrie in den 1970er-Jahren. Wie sah es dort aus? Welche Verhältnisse trifft man da an? Wie stellt sich das dar? Weil man es bildlich sieht. Und das ist auch ein Stück Psychiatriekritik. Und wir werfen einen Blick auf die inneren Impulse, also auf die aus den Kreisen der Sozialpädagogen hervorgebrachten Psychiatriekritikelemente und Psychiatriereformelemente in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel.

• 12:49 - 13:46

Und ein letztes Kapitel, auch sehr wichtig in meinen Augen, befasst sich mit Umgang mit Devianz, den sogenannten sozialtherapeutischen Anstalten für Straffällige, mit den Rehabilitationsbemühungen für Suchtkranke und mit den Hilfen für Obdachlose. Das sind quasi noch mal unter den Randgruppen die besonders schwachen Randgruppen. Auch da gibt es gewisse Hierarchien, selbst in den Randgruppen, deren Interessen schwer zu vertreten sind, schwer zu organisieren sind und die auch an den Fallbeispielen deutlich machen, dass dieser Prozess, den wird Deinstitutionalisierung nennen, ist nach Anlehnung an den englischen Sprachgebrauch hinter den Anstalten und hinter der stationären Versorgung, dass das ein Weg voller Widerstände, voller Hindernisse, auch voller Rückschritte ist.

• 13:46 - 13:53

Diese Prozesse sind nicht sozusagen eine Einbahnstraße, sondern das Rad kann auch wieder zurückgedreht werden.

• 13:54 - 14:24

Kathrin Nolte: Es ist gerade schon an verschiedenen Stellen mehrfach angeklungen: Während man heute versucht, die Menschen einzubinden, indem sie mitten in den Städten leben, in Wohngruppen eben nicht mehr in großen Anstalten, hinter dicken Mauern und Gitterstäben. Damit wir aber den Zuhörerinnen und Zuhörern das noch mal schildern können: Wie sah es in den 60er, 70er Jahren in diesen Anstalten aus?

• 14:25 - 14:33

Also wie war es um die persönliche Situation und auch um die Alltagserfahrungen der betroffenen Gruppen bestellt?

• 14:34 - 15:14

Wilfried Rudloff: Ja. Der erste Umstand ist, dass es gar keine Alternativen zu den alten Anstalten gab in vielen Feldern. Das heißt, es gab gar keine Zwischenstufen, keine teilstationären, wie wir das heute nennen, Angebote, keine ambulante Versorgung, sondern das Heim war in vielerlei Hinsicht und die Anstalt, die großen Heime, also die mit Hunderten mit manchmal über tausend Insassen, war alternativlos. Man wurde, wenn man ein psychisches Problem hatte, wenn man behindert war und die Familie die Versorgung nicht mehr gewährleisten konnte, wurde man schnell in solch eine Anstalt verbannt.

• 15:14 - 15:48

Das sind oft auch Gebäude noch aus dem 19. Jahrhundert, wie Trutzburgen, wie große Festungen gewesen, oft abgelegen im ländlichen Raum, weg von der Großstadt. Und das, was man da antrifft, ist, man muss es so nennen, Massenverwahrung. Also es gab keine Privatheit, keine individuellen Rückzugsräume, große, große Schlafsäle, die sanitären Masseneinrichtungen hießen Badezimmer und Duschräume, kein individuelles Mobiliar.

• 15:48 - 16:39

Man musste also mit dem wenigen, was man hatte, in vorgegebenen engen Zimmern wohnen, insgesamt karg und wie später dann oft zugegeben wurde, unmenschliche Standards. Es gab eine sehr rigide Hausordnung, die angepasst war, sozusagen an die Bedürfnisse der Anstalt, nicht an die Bedürfnisse der Insassen. Es gab oft wenig Personal und es gab oft, da gibt es ja Kontinuitäten aus dem nationalsozialistischen Zeitraum heraus sehr autoritäre Strukturen und autoritäre Praktiken an diesen großen Massenverwahrungsanstalten, die insgesamt oft sehr karge und unmenschliche Lebensumstände boten.

• 16:39 - 17:35

Dieses ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit weniger anstößig, kann man sagen. Als dann in den 1960er- und zunehmend in den 1970er-Jahren, weil ja außerhalb der Anstalten sich die Lebensumstände enorm verbessern. Wir treten ein in die Wohlstandsgesellschaft. Davon kann man in den Anstalten selbst nicht sprechen, und die Folgen davon sind das, was wir gelernte Hilflosigkeit auch nennen. Und diese Anstalten trainieren eben nicht darauf. Sie sind nicht pädagogisch darauf ausgerichtet, oft, dass die Insassen dann wieder in die Gesellschaft zurückkehren und dort sich zurechtfinden, sondern die Insassen, die Bewohner der Heime, wie man besser sagen sollte, werden darauf trainiert, den Bedürfnissen des Anstaltsalltags zu genügen, und ihre eigenen Bedürfnisse werden den Imperativen des Anstaltsalltags sozusagen untergeordnet.

• 17:35 - 18:11

Und das führt auch und zunehmend bei bestimmten Gruppen zu einer latenten Unzufriedenheit mit den Lebensumständen in diesem Heimen. Darüber sprechen die Quellen sehr viel weniger. Aber darüber gibt es nun auch schon eine ganze Reihe von innovativen Forschungen, wo man erkennen kann, dass auch aus den Anstalten heraus in den Betroffenen das Bedürfnis nach wohnlicherem, nach annehmlicherem, nach selbstbestimmten und nach individuellen, nach persönlicheren Lebensumständen artikuliert wird und vor allem die Isolierung von der gesellschaftlichen Umwelt durchbrochen wird.

• 18:12 - 18:32

Also, dass die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, dass Selbststärkung eine tragende Rolle in den Einrichtungen übernehmen sollen, sodass sozusagen das Abschieben in die Heime kein lebenslanger Zustand mehr bleiben braucht.

• 18:32 - 18:46

Kathrin Nolte: Ein solcher Wandel und auch große Reform grundsätzlich passieren ja auch nicht über Nacht. Wie erfolgte die Etablierung dieser neuen Formen sozialer Hilfe? Und war dieser Wandel eine konfliktfreie Erfolgsgeschichte?

• 18:47 - 19:22

Wilfried Rudloff: Das war es sicher nicht. Diese Konflikte sind natürlich schon durch die sehr divergenten Interessen, die sich an diese Anstalten knüpfen, vorprogrammiert. Das sind ja Trägerstrukturen von Einrichtungen, die oft über ein Jahrhundert schon bestehen. Und man hat es ja sozusagen, wir nennen das Top-down- und Bottom-up-Prozesse. Also man hat das sowohl mit Auswirkungen, die von oben gesteuert auf die Anstalten einwirken, zu tun.

• 19:22 - 19:59

Wie auch aus den Anstalten selbst kommen sie in Kräften. Die Sozialarbeiter, das habe ich schon gesagt, gewinnen einen kritischen Blick auf die Einrichtungen, die Betroffenen organisieren sich. Interessant ist das zum Beispiel für die Behindertenbewegung, die ab den 1980er-Jahren erst sehr stark sich autonom zu organisieren versucht, unabhängig von irgendwelchen Elternorganisationen, von Vertretern und Advokaten, die an ihrer statt zu sprechen beanspruchen, sondern sich selbst organisieren, ihre eigenen Interessen in die Hand nehmen wollen.

• 20:00 - 20:44

Die nennen sich dann auch noch provokativ. Der radikalere Zweig davon nennt sich Provokativkrüppelgruppen und nimmt sozusagen das alt gewordene Wort für Behinderte auf in der Selbstbeschreibung. Und die fangen nun ganz energisch an, ihre eigenen Interessen zu artikulieren, während die alten Träger verunsichert sind. Das hat auch damit zu tun […] In der Heimfürsorge und in der Jugendhilfe kann man das sehr schön beobachten: Dort hat die Studentenbewegung 68 eine Heimkampagne und Teile der Studentenbewegung zumindest hat eine Heimkampagne gestartet, wo die Vertreter der APO vor die Anstalten gezogen sind.

• 20:44 - 21:29

Stachelberg zum Beispiel hier in Hessen oder auch andernorts und die Jugendlichen aufgefordert haben, aus den Heimen zu fliehen, zu ihnen in die Stadt zu kommen, möglicherweise in ihren WGs Unterschlupf zu finden. Das hat zu allerlei Turbulenzen geführt. Das will ich gar nicht im Einzelnen ausführen, hat aber in dieser massiven Kritik und in dieser Bedrohung der Alltagsroutine auch die Heimführungen sehr stark verunsichert, sodass dort Prozesse auch auf politischer Ebene, Prozesse des Nachdenkens über mögliche Reformschritte, über Veränderungen, die zum Teil schon lange sozusagen in den Schubladen als Programm oder als mögliche Reformansätze bereitlagen, aber nie umgesetzt worden waren, doch schrittweise in Gang gesetzt werden.

• 21:29 - 22:01

Also es gibt dynamische Prozesse aus den Anstalten selbst und es gibt auch von oben top-down Bemühungen halt: So kann das nicht bleiben. Wir müssen was verändern. Tatsächlich sind die Lebensumstände in den Reihen der bundesrepublikanischen Gesellschaft Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr angemessen. Und dann geht es allerdings weiter. Wir haben zur gleichen Zeit, das zeigt, wie verworren, wie kompliziert, wie auch dynamisch und manchmal auch wie wechselhaft die Umstände sind.

• 22:01 - 22:35

Wir haben auch in der Bevölkerung Widerstände dagegen. Es gibt einen ziemlich bekannt gewordenen Fall damals den sogenannten Fall Aumühle, wo eine Behinderteneinrichtung in Niederbayern geschaffen werden sollte und dort als die Behinderten anreisen und die Betreuer. Die Bevölkerung, die gerade erst auf den Gedanken gekommen war, dass ihr Ort doch eigentlich prädestiniert wäre für den Zweig des Tourismus, die Behinderten verjagt, gewaltsam verjagt und die Einrichtungen in Brand steckten.

• 22:36 - 23:08

Weil die Bevölkerung will dort kein Heim sehen, weil es das Aufblühen des Tourismus behindern kann. Und solche Episoden, die in diesem Fall besonders krass waren, haben wir, das zeigen auch die ersten empirischen Bevölkerungsumfragen Meinungsumfragen, haben wir öfter. Die Frage ist dann immer: Ist überhaupt auch Geld da? Es gibt zwei große Steuerungsmedien in diesem Prozess, die wichtig sind. Das eine ist das Geld. Ist Geld da für den Umbau der Infrastrukturen? Und das andere Steuerungsmedium ist das Recht.

• 23:08 - 23:45

Sind die Gesetze geeignet, das Umsteuern auf ambulante Angebote von stationären durch Umschalten auf ambulante Angebote zu unterstützen und zu befördern? Und da haben wir sehr unterschiedliche Prozesse. Das wichtigste Beispiel ist das sogenannte Bundessozialhilfegesetz, welches 1960/1961 in Kraft getreten ist, wo drinsteht, dass ambulante Angebote einen Vorrang vor stationären haben sollen. Aber bis sich das umsetzt, bedarf es immer wieder dieser aus dem Feld selbst kommenden aktiven Kräfte.

• 23:45 - 24:37

Und selbst reguliert sich das nicht. Man braucht die Unterstützung. Und Unterstützung kommt dann vor allen Dingen, weil es ja schwach organisierte Gruppen sind von advokatorischen Gruppen, die oft mit den neuen sozialen Bewegungen zusammenhängen. Ich habe es ja schon gesagt, die Studentenbewegung spielt zumindest in der Heimerziehung eine Rolle. Bei der Psychiatrie sind es mehr die junge Generation der Professionsangehörigen, die Psychiater, die auch von den Universitäten kommen, die möglicherweise im Ausland gesehen haben, in Großbritannien, in Skandinavien, in Frankreich und in den USA, dass es dort inzwischen ganz andere, nicht stationäre Versorgungsangebote gibt, die nun dafür sorgen, dass institutionelle Alternativen in die Diskussionen auch in den politischen Prozess eingespeist werden.

• 24:38 - 25:02

Also es kommt sehr stark auf die Akteurskonstellation in den einzelnen Feldern an und dann kommt es eben auch nicht zuletzt darauf an, wie sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen? Die 1960er-Jahre sind eine sehr ressourcenstarke Dekade, wo die Haushaltskassen jedenfalls im Vergleich zu anderen Perioden tendenziell voll waren.

• 25:02 - 25:33

Das führt zum Teil dazu, dass gerade die stationären Angebote ausgebaut werden, wobei man dann in den 1970er-Jahren ins Nachdenken kommt, ob das der richtige Kurs war. Aber es besteht eben, wenn die Haushaltskassen voll sind, auch die Möglichkeit umzuschalten. Und der spezielle Charme der ambulanten Angebote war zugleich, dass sie tendenziell oft billiger waren als die stationäre Versorgung.

• 25:33 - 26:10

Die stationäre Versorgung in großen Anstalten, in Heimen, in ganztägiger Unterbringung kostet tendenziell mehr als ambulante Versorgungseinrichtungen. Das unterstützte eigentlich gleichzeitig über die 1970er-Jahre hinaus, wo wir dann den ersten großen wirtschaftlichen Einbruch erleben, ab Mitte der 1970er-Jahre mit der Ölkrise diesen Umbauprozess in der revolutionären Umgestaltung der Infrastrukturen, der Hilfsangebote des Sozialstaates.

• 26:11 - 27:02

Ja, und so hat man praktisch in jedem dieser Felder sowohl bei der Behindertenpolitik wie auch bei der Jugendhilfepolitik wie auch in der Psychiatrie, wie auch bei den Devianzgruppen, die wir noch in den Blick nehmen, jeweils ganz spezifische Handlungsbedingungen und -dynamiken, die dafür sorgen, dass zu jeweils unterschiedlichen Zeiten Zeitphasen verschoben werden, diese Reformprozesse in Gang kommen und immer auch mal ins Stocken kommen, teilweise das Rad zurückgedreht wird, weil Reformen, Prozesse in Sackgassen geführt haben, weil sich die Umsetzungsbedingungen schwieriger erwiesen haben, weil die Widerstände neu entstehen, weil finanzielle Engpässe entstehen, also jeweils sehr individuelle Konstellationen, die man nicht über einen Kamm scheren wird.

• 27:02 - 27:19

Kathrin Nolte: Vielen Dank, Herr Rudloff, Sie haben uns einen tollen Einblick in den Sammelband geboten. Wer jetzt noch mehr erfahren möchte, dem lege ich ans Herz, sich den Sammelband im Buchhandel zu kaufen und einfach mal die Beiträge zu lesen. Und Ihnen, Herr Rudloff, danke ich für das Gespräch.

• 27:19 - 27:27

Wilfried Rudloff: Ich danke Ihnen.