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7. Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: „Seuchen schüren gewaltige Ängste, weil sie potenziell jeden treffen können“

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Kathrin Nolte: Herzlich willkommen zur siebten Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“. Dieses Mal sprechen wir über ein derzeit aktuelles Thema, über das neuartige Coronavirus. Wer sind wir? Mein Name ist Kathrin Nolte und ich bin im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Mein Interviewpartner ist Historiker Prof. Dr. Malte Thießen, der die LWL-Forschungseinrichtung leitet. Das Coronavirus breitet sich auch in Deutschland weiter aus. Es werden immer mehr Schutzmaßnahmen ergriffen: Veranstaltungsabsagen, die Schließung von Schulen, Kitas und Museen, Hamsterkäufe in Supermärkten.

• 0:48 - 0:57

Das öffentliche Leben kommt mehr und mehr zum Erliegen. Die Unruhe in der Bevölkerung nimmt zu. Herr Thießen, worin begründet sich die Angst vor Seuchen in der Gesellschaft?

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Malte Thießen: Seuchen, könnte man sagen, sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie schüren Ängste, weil sie jeden treffen können. Mitmenschen mutieren sie auf einmal zu Bedrohungen und die Familie und Freunde zu schutzlosen Opfern. Die Seuche, das sind also immer die anderen. Und das macht Angst. Bei der aktuellen Pandemie wie zum Beispiel Covid-19, bei aktuellen Pandemien, da sind die Ängste umso größer, weil das Virus neu ist. Neue Krankheiten wirken natürlich immer bedrohlicher als Bekannte.

• 1:29 - 1:59

Der zurzeit gängige Vergleich mit der saisonalen Influenza, also mit der Grippe, ist dafür glaube ich, ein ganz gutes Beispiel. Auch wenn es zynisch klingt. Wir haben im Grunde gelernt, mit den Toten der Grippe zu leben, weil wir sie eben kennen. Und das, obwohl es gegen diese Krankheit sogar eine Impfung gibt. Das Neue ist außerdem förderlich für die Verbreitung von Vermutungen und Verschwörungstheorien und gerade jetzt im digitalen Zeitalter gehen diese Meldungen dann eben schnell viral, wenn man das so sagen darf.

• 2:00 - 2:38

Menschen möchten das Unbekannte einordnen, das Neue, um Sicherheit zu gewinnen und ihr Leben planen zu können. Das ist natürlich erst einmal ein ganz natürlicher Prozess. Leider greifen wir dabei oft auf Stereotype und Deutungen zurück, die weniger mit der medizinischen Lage zu tun haben, sondern sehr viel mehr mit unseren Weltbildern. Nur kurz vielleicht ein Beispiel: Sorgen vor Migranten oder Randgruppen oder vor gewinnsüchtigen Pharmaunternehmen, vor einem allmächtigen Staat oder umgekehrt vor einem hilflosen Staat, alles das sind dann Erklärungen, scheinbare Erklärungen, die Ängste aber noch befördern oder sogar für Panik sorgen können.

• 2:39 - 2:50

Und diese Ängste, diese Panik, die sind dann mitunter genauso gefährlich wie die Seuche selbst. Zum Beispiel jetzt die gegenwärtigen Hamsterkäufe von Sterilisationsmitteln und Schutzmasken zeigen das ja leider ziemlich deutlich.

• 2:51 - 2:54

Kathrin Nolte: Welche historischen Beispiele gibt es denn für Seuchenausbrüche?

• 2:56 - 3:31

Malte Thießen: Tatsächlich freut man sich als Historiker jetzt erst mal, dass die Seuchengeschichte wieder so eine große Rolle spielt. Besonders beliebt sind momentan meiner Wahrnehmung nach, Bezüge auf die Pestpandemien zum Beispiel des 14. Jahrhunderts oder natürlich vor allem auf die Spanische Grippe von 1918/19 mit zwischen 25 und 50 Millionen Toten. Man könnte diese Liste des Grauens aber problemlos auf die jüngere Zeit fortsetzen. So forderten zum Beispiel die Kinderlähmung oder auch die Diphtherie bis in die 60er Jahre Tausende Opfer allein in der Bundesrepublik, jetzt vor allem natürlich unter Kindern.

• 3:32 - 3:43

Und noch in den 70er Jahren wurden immer wieder die Pocken in die Bundesrepublik eingeschleppt. Und der Ausbruch von AIDS, HIV in den 80er Jahren auch der forderte natürlich unzählige Tote.

• 3:43 - 3:46

Kathrin Nolte: Was lässt sich aus dieser Geschichte denn für die Gegenwart lernen?

• 3:48 - 4:25

Malte Thießen: Also zunächst einmal, glaube ich, macht die Seuchengeschichte die Gefahren von Stereotypen sichtbar. Während der Pestepidemien zum Beispiel. Da gerieten bereits immer wieder jüdische Einwohner von Städten ins Visier. Sie wurden als Pestbringer oder als Brutstätte sozusagen ausgegrenzt und zum Teil sogar ermordet. Und trotzdem glaube ich, machen wir es uns zu einfach, wenn wir solche Ausgrenzungen nur auf ein finsteres Mittelalter reduzieren. Wenn man jetzt zum Beispiel an die Ausgrenzung von Schwulen in den 1980er-Jahren denkt, in den 1980er-Jahren, da wurde AIDS als Homosexuellen-Seuche, wie es hieß, tituliert.

• 4:26 - 5:02

Ich glaube, dann sind das nicht minder abschreckende Beispiele für ganz reale Bedrohungen, die eben von solchen Stereotypen, von solchen Zuschreibungen ausgehen. Das ist vielleicht so eine Lehre. Wir sollten vorsichtig sein mit vorschnellen Zuschreibungen und Erklärungen und uns bewusst machen, dass Menschen selbst heute noch ausgesprochen mittelalterlich reagieren können. Eine zweite Lehre aus der Geschichte lautet Aufklärung: Von der Antike bis heute gibt es zahlreiche Versuche, Seuchen einzudämmen, insbesondere mithilfe autoritärer Maßnahmen, sozusagen von oben die Seuche bekämpfen zu wollen.

• 5:03 - 5:37

Solche Versuche waren allerdings auch das zeigt die Geschichte, fast immer zum Scheitern verurteilt. Selbst im Dritten Reich. Das ist natürlich nun ein System, wo die Möglichkeiten autoritärer Maßnahmen besonders erschreckend groß waren. Selbst da setzte man zum Beispiel bei der Diphtherie-Schutzimpfung zähneknirschend auf Freiwilligkeit und Aufklärung, weil Zwangsmaßnahmen wenig Erfolg hatten. Vielleicht noch, um ein positiveres Beispiel zu nennen für Aufklärung. Das wäre die Aufklärungsarbeit von Robert-Koch-Institut und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung seit den 1970er-Jahren.

• 5:37 - 6:09

Seitdem hat sich ein offener Umgang mit Infektionskrankheiten etabliert. Probleme von Seuchen und Gefahren werden nicht verschwiegen, aber eben auch Möglichkeiten eigenverantwortlichen Handelns aufgezeigt und betont. Und genau das. Ich glaube, das scheint mir heute gerade wichtiger denn je zu sein. Eine effektive Seuchenbekämpfung ist eben auch die Mitarbeit aller und auf die Akzeptanz auch von unten angewiesen. Und diese Akzeptanz und die Mitwirkung der Bevölkerung bekommen wir nur mit größtmöglicher Aufklärung und Transparenz hin.

• 6:09 - 6:50

Und vielleicht, falls wir kurz Zeit haben, da noch eine kurze dritte Lehre, die man aus der Seuchengeschichte ziehen könnte. Die dritte Lehre ist die von den globalen Zusammenhängen. Seuchen durchbrechen jede Grenze. Das ist zunächst einmal eine Binsenweisheit, die für uns jeden auf der Hand liegt und auch bereits im 19. Jahrhundert für internationale Kooperation im Kampf gegen Infektionskrankheiten sorgte. Aber der aktuelle Trend hin zur Abschottung oder zu nationalen Alleingängen, wie wir ihn jetzt gerade beobachten können, das ist angesichts weltweiter Warenströme nicht nur naiv, sondern auch eine große Gefahr, weil sie den internationalen Erfahrungsaustausch und eben eine globale Koordination erschweren.

• 6:52 - 7:10

Kathrin Nolte: Sie haben es gerade schon angesprochen. Die Nachrichten überschlagen sich. Eigentlich fast täglich gibt es Neuigkeiten, es werden Pressekonferenzen abgehalten. Dennoch gibt es ja auch gewisse Bekämpfungsstrategien, die damals aber auch heute im Fokus stehen. Wie sollte denn die Politik reagieren?

• 7:11 - 7:47

Malte Thießen: Also die bekanntesten Bekämpfungsstrategien und das, was uns momentan ja auch am meisten umtreibt, das sind Isolationsmaßnahmen oder Quarantänemaßnahmen. Und diese Maßnahmen Isolation, Quarantäne sind auch seit Jahrhunderten immer das beliebteste Mittel. Also schon während der Pestzüge wurden ganze Städte, ja ganze Landstriche sogar abgeriegelt. Und trotzdem zeigen sich in historischer Perspektive auch die Probleme dieser Strategie. Schon im 13. und 14. Jahrhundert wahrscheinlich aber auch früher, finden wir Belege, dass sich Bevölkerungskreise aus Isolation freikaufen oder das eben Waren- und Menschenströme nicht konsequent kontrolliert wurden.

• 7:47 - 8:26

Gerade wenn es eben wirtschaftliche Interessen gab. Wenn man in die moderne, also ins 19. und 20. Jahrhundert blickt, dann ist der Erfolg von Isolations- und Quarantänemaßnahmen noch fragwürdiger. Ich glaube selbst China, das ja heute wegen seiner ganz rigiden Maßnahmen gegen Corona gern als Vorbild gepriesen wird. Ich glaube, selbst da griffen die Isolationsmaßnahmen, das betonen zumindest auch viele Virologen, zu spät. Also eine schnelle Isolation von lokal klar eingrenzbaren Seuchen. Das ist selbstverständlich sinnvoll, aber im globalen Zeitalter sind derart klar eingrenzbar Seuchenherde eine ganz seltene Ausnahmeerscheinung.

• 8:26 - 8:34

Kathrin Nolte: Spielt da auch die Reisefreiheit eine große Rolle? Weil im Gegensatz zu damals kann man sich heute sehr viel schneller fortbewegen.

• 8:35 - 9:05

Malte Thießen: Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiges Beispiel für eine globale Welt, in der wir eben Seuchen immer schwerer mit Grenzziehungen oder mit Quarantänemaßnahmen eingrenzen oder bekämpfen können. Und das ist auch insofern wichtig, wenn man sich mal die Berichterstattung anguckt, wer sozusagen als Problem, als Seuchenträger, als Brutstätte marginalisiert und stigmatisiert wird. Das sind selten die Touristen, die aber das größere Problem oft darstellen, sondern es sind oft Migranten oder sogenannte Randgruppen.

• 9:05 - 9:37

Und genau Tourismus ist, glaube ich, ein ganz wesentlicher Faktor. Aber das ist natürlich auch besonders schwer, genau diesen einzugrenzen, weil das viel mit unserem Lebensstil zu tun hat. Ich glaube, sinnvollere politische Maßnahmen sind deshalb also sinnvoller als jetzt Quarantäne und Isolation sind zum Beispiel eine oder vor allem eine offensive Aufklärungsarbeit und die Verstärkung gesundheitspolitischer Strukturen. Der Kampf gegen eine Seuche, den Kampf gegen eine Pandemie, den müssen wir alle und zwar gemeinsam führen.

• 9:38 - 10:14

Der Erfolg der Seuchenbekämpfung hängt ja ganz wesentlich von unserem alltäglichen Verhalten ab. Und deshalb müssen wir gut informiert sein und eben Handlungsmöglichkeiten überhaupt kennen. Die Verstärkung gesundheitspolitischer Strukturen wiederum ist zunächst einmal natürlich immer wichtig. Aber in solchen Zeiten glaube ich ganz besonders gefragt. Das zeigt zum Beispiel das flächendeckende Angebot an Impfstellen während der Polio-Epidemien, also der Ausbrüche von Kinderlähmung in den 60er Jahren mit großen Erfolgen und auch die niedrigschwelligen Präventionsangebote in 80er Jahren also zum Beispiel im Falle von AIDS, HIV.

• 10:14 - 10:29

Also wir haben vielleicht alle noch „Gib AIDS keine Chance“ als Slogan noch im Ohr oder die Älteren von uns zumindest. Auch solche niedrigschwelligen Präventionsangebote bauten Ängste ab und Vorbehalte und beförderten ein verantwortungsvolles und eigenverantwortliches Verhalten vieler.

• 10:30 - 10:38

Kathrin Nolte: In Ihren wissenschaftlichen Studien beschreiben Sie Seuchen als „Seismograf des Sozialen“. Wie sozial verhalten wir uns denn gerade in der aktuellen Lage?

• 10:40 - 11:13

Malte Thießen: Tatsächlich ist es eine gute Frage und wir sind alle momentan ja gewissermaßen Zeitzeugen dieses Verhaltens. Tatsächlich glaube ich, dass Seuchen ein Seismograf des Sozialen sind, weil Seuchen uns sichtbar machen, wo es knirscht in der Gesellschaft. Sie machen die Erschütterungen der Gesellschaft sichtbar. Man kann auch sagen Seuchen sind sozusagen ein Stresstest für die Gesellschaft. Sie legen soziale Bindekräfte offen, also auch Solidarität, aber andererseits eben natürlich auch Verwerfungen und massive Konflikte.

• 11:14 - 11:53

Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt hinterlässt dieser Stresstest aus meiner Sicht einen eher zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite sehen wir krude Verschwörungstheorien, Hetze gegen Minderheiten als Seuchenbringer und Seuchenträger oder eben auch die Hamsterkäufe jetzt zum Beispiel von Schutzmasken und Sterilisationsmitteln. Und das ist, glaube ich, ein deutliches Signal für die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Auf der anderen Seite sehen wir, ich glaube gerade in den letzten Wochen, jetzt im sozialen Nahbereich viele Formen sehr solidarischen und auch verantwortungsvollen Verhaltens, dass uns glaube ich Mut machen kann und auch ein Vorbild sein sollte.

• 11:54 - 12:12

Zum Beispiel das Einkaufen für ältere Menschen im Nachbarhaus oder die Unterstützung von Pflegekräften und Ärzten oder die umsichtige Selbstisolation, also das in Quarantäne gehen von potenziell Erkrankten. Ich glaube, das zeigt vielleicht dann doch, dass wir aus der Seuchengeschichte ein wenig gelernt haben.

• 12:14 - 12:16

Kathrin Nolte: Vielen Dank für das Gespräch und bleiben Sie gesund.