11. Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: „Corona ist ein Verstärker für tiefgreifende soziale Veränderungen“
• 0:08 - 0:46
Kathrin Nolte: Im Frühjahr 2020 veränderte sich unsere Welt. Wir lebten plötzlich alle im Lockdown und arbeiteten im Homeoffice. Wir gingen auf Distanz zur Familie und zu Freunden. Wir suchten nach Nudeln, Hefe und Klopapier. Die Coronapandemie führte zu massiven Verwerfungen in der Wirtschaft und in der Wissenschaft, in Parlamenten, in den Medien und sozialen Netzwerken, in der Außenpolitik ebenso wie im Alltag. Selbst mit der Einführung von Impfprogrammen hörten die Probleme zunächst nicht auf. Verteilungskämpfe zwischen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern sowie ganzen Staaten brachen aus. Nebenwirkungen und Mutationen schürten neue Ängste.
• 0:46 - 1:21
Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus ließ die Ereignisse der Seuchengeschichte vorangegangener Jahrhunderte erschreckend aktuell wirken. In dieser Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“ sprechen wir über die Coronapandemie und die Folgen für unsere Gesellschaft. Bevor es losgeht, möchten wir uns gerne kurz vorstellen. Mein Name ist Kathrin Nolte und ich bin im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte für die Wissenschaftskommunikation zuständig. Mein Interviewgast Prof. Dr. Malte Thießen ist Leiter des LWL-Instituts und Medizinhistoriker.
• 1:21 - 1:25
Herr Thießen, wie hat die Pandemie unsere Gesellschaft denn verändert?
• 1:26 - 1:57
Malte Thießen: Ich glaube, dass schon die Frage eine ganz fundamentale Veränderung signalisiert, denn bislang haben sich Menschen auch in Deutschland eigentlich nach Pandemien überhaupt gar nicht die Frage gestellt, ob sich was verändert hat. Pandemien gehörten lange Zeit dazu und dann waren sie lange Zeit eben gar nicht da. Selbst wenn man zurückblickt in die letzten Jahrzehnte, keine Ahnung, die Schweinegrippe zum Beispiel oder bis AIDS zurückgeht oder Ähnliches. Die Fragen waren eigentlich nicht, was sich groß verändert, sondern das war eben eine Pandemie und die ging dann wieder vorüber.
• 1:57 - 2:32
Und das ist jetzt nach Corona anders. Und ich glaube schon das zeigt an, dass sich tatsächlich viel verändert hat. Zuallererst hat sich natürlich etwas bei unserem Risikobewusstsein geändert. Wir haben Angst vor Corona und wir gehen sehr weitgehende Maßnahmen ein, um eben Corona in Schach zu halten, um Corona zurückzudrängen. Das heißt, die ganze Gesellschaft ist sozusagen auf Corona eingestellt. Man kommt an Corona ja gar nicht mehr vorbei in den Schlagzeilen, aber auch im Alltag. Und das ist tatsächlich etwas, was in einer solchen Geschichte, in dem Ausmaße im 19. und 20. Jahrhundert einmalig ist.
• 2:33 - 3:04
Die Veränderungen sind, glaube ich, zunächst einmal im Kopf deshalb zu bemerken. Unser Mindset sozusagen ist anders. Wir sind im Pandemie-Modus, wenn wir uns durch die Straßen bewegen, wir gehen automatisch auf Abstand. Wir haben mittlerweile die Maske sozusagen immer in der Hand. Wir kriegen beim Anblick von Menschenmengen sozusagen eine Gänsehaut. Das heißt, in unserem Kopf hat sich erst mal unheimlich viel verändert, aber eben auch tiefgreifende Veränderungen, die wir im Alltag bemerken. Die Kommunikation hat sich geändert. Wir sind sehr viel digitaler, selbstverständlich digitaler unterwegs als noch vor eineinhalb Jahren.
• 3:05 - 3:38
Wir arbeiten anders und wir leben auch anders, mit wem wir uns treffen und wie wir uns treffen. Alles das ist natürlich für uns eine grundsätzliche Veränderung, die im Kleinen im Alltag sozusagen spürbar wird. Und trotzdem scheint es mir wichtig, Corona einzuordnen. Corona ist nicht unbedingt die einzige Ursache all dieser Veränderungen, sondern ein Verstärker. Viele dieser Veränderungen, gerade jetzt bei der digitalen Kommunikation zum Beispiel, sind natürlich schon langfristig angelegt, aber Corona hat einen unglaublichen Schub ausgelöst. Corona ist ein Verstärker, ein Katalysator, kann man sagen für tiefgreifende soziale Veränderungen.
• 3:38 - 4:07
Hat jetzt Sachen nach vorne gebracht, die sonst wahrscheinlich noch lange gedauert hätten. Besonders wichtig ist das zum Beispiel, wenn wir auf die Verschärfung sozialer Ungleichheit gucken. Corona hat deutlich gemacht, wie ungerecht diese Gesellschaft in Bezug auf Gesundheit und Krankheit, auf Leben und Tod ist. Dass Menschen, die ärmer sind, viel häufiger betroffen werden von Krankheiten, kürzer leben. Alles das hat Corona offengelegt und zu massiven Debatten geführt. Aber das sind Sachen, die wir eigentlich schon seit Jahrzehnten wissen.
• 4:08 - 4:16
Sozusagen überhaupt nichts Neues. Corona ist also sozusagen im Grunde nur das Symptom, was diese Veränderung sozusagen noch mal deutlicher gemacht hat.
• 4:17 - 4:36
Kathrin Nolte: Man formt ja gerne Superlative. Jetzt aktuell gibt es die Unterscheidung in einer Zeit vor und nach Corona, die unsere Vorstellungen vom Alltag und von unserer Gesellschaft im Moment sehr stark prägen. Stellt die Pandemie tatsächlich eine Zäsur dar oder sogar eine Zeitenwende?
• 4:38 - 5:10
Malte Thießen: Also ich würde tatsächlich sagen, auch wenn alle immer schnell sozusagen eine Zäsur in allen Krisen sehen, dass tatsächlich Corona eine Zäsur darstellt, und zwar nicht unbedingt von den faktischen Auswirkungen her. Also die Spanische Grippe beispielsweise hat sehr viel mehr Tote auf dem Gewissen, als Corona haben wird. Toi, toi, toi. Oder auch im
20. Jahrhundert. Die Hongkong-Grippe zum Beispiel in den 70er Jahren war auch eine Pandemie mit Zehntausenden bis zu 50.000 Toten in Westdeutschland, also eine schwere Pandemie.
• 5:11 - 5:45
Und trotzdem ist der soziale Impact, der Einfluss auf die Gesellschaft von Corona, deutlich anders als bei allen früheren Pandemien. Und das hängt eben damit zusammen, dass wir Corona als Bedrohung sehen. Nicht nur für uns, das ist schlimm genug, sondern insbesondere eben für Risikogruppen und für Ältere. Dass wir Corona als eine Bedrohung sehen, weil wir alle Menschen schützen möchten. Und das ist insofern eine Zäsur, weil das früher eben lange Zeit anders war. Man hat hatte lange Zeit gelebt oder leben gelernt mit den Toten von Pandemien.
• 5:45 - 6:20
Das waren eben die Älteren oder eben die Risikogruppen, die dann eben bei vielen Pandemien auch in den 1960er/70er-Jahren als erstes und massiv starben. Das ist heute anders. Und deshalb ist es, glaube ich, tatsächlich eine Zäsur. Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir alle mitnehmen möchten und alle schützen möchten. Deshalb ist Corona so ein tiefgreifender Einschnitt. Man könnte das überspitzt formulieren, dass wir so eine Angst vor Corona haben, dass Corona für uns eine so große Bedrohung ist letztlich, so schlimm das ist ein Fortschritt, weil es etwas zeigt, was sich bei uns geändert hat, dass wir nämlich Gesellschaft als Ganzes sozusagen schützen möchten.
• 6:21 - 6:33
Eine Zäsur ist Corona auch, weil diese Pandemie in der globalen Dimension einzigartig ist. Pandemien sind immer global, das steckt schon einen Namen selbst drin.
• 6:33 - 6:42
Kathrin Nolte: Aber es ist ja durch die Reisefreiheit, die man jetzt aktuell genießt, die es ja früher einfach in dem Sinne nicht gab, hat sie sich wahrscheinlich nicht wahrscheinlich, sondern in der Tat schneller ausgebreitet?
• 6:43 - 7:16
Malte Thießen: Genau. Also zum einen die Verbreitung der Pandemie ist durch unsere Mobilität, die wir heute in einem Ausmaße auch genießen konnten, ist die Verbreitung in einem Ausmaße sehr viel schneller als frühere Pandemien. Und sie betrifft uns auch sehr viel stärker, weil wir eben global leben oder viele von uns selbstverständlich global leben, weil wir global arbeiten, weil wir Urlaub, Freizeit sozusagen global denken, ist eben Corona so eine tiefe Zäsur. Wir stellen sozusagen mit dieser Pandemie jetzt Globalität ganz anders infrage.
• 7:16 - 7:55
Aber auch positiv können wir das wieder wenden. Globale Kommunikation über die Pandemie hat sehr viel besser und effektiver geklappt als in früheren Pandemien. Es gab immer Probleme, klar. Aber insgesamt ist der wissenschaftliche Austausch zum Beispiel über Impfstoffe, über therapeutische Möglichkeiten in der Corona-Pandemie sehr schnell und sehr gut gewesen. Also auch da in der Beziehung ist, glaube ich das eine Zäsur. Dass globale Kommunikation und globale Wissenschaft sozusagen bei Corona in einem in einem Ausmaße funktioniert hat und auch zur Verdichtung, zur Zusammenarbeit geführt hat, die dann vielleicht auch eine[n] ganz beruhigenden Ausblick dann gibt.
• 7:56 - 8:31
Und vielleicht noch ein letzter Punkt, warum Corona eine wirkliche Zäsur ist. Pandemien sind immer politisch. Es sind immer Herausforderungen für Staaten, für Sozialsysteme, für Sozialstaaten. Das war schon immer so. Aber Corona ist einem Ausmaß politisch, wie wir das bislang noch nie gesehen haben. Dass man mit einer Pandemie Politik macht, dass man im Wahlkampf jetzt im Bundestagswahlkampf, aber auch schon früher Landtagswahlkämpfen mit Inzidenzzahlen oder Impfquoten plötzlich Politik macht. In dem Ausmaß, da ist tatsächlich 2020/21 ein ganz tiefer Einschnitt, der glaube ich auch nachwirken wird.
• 8:32 - 8:45
Kathrin Nolte: Welchen Nutzen hat denn die vielfältige Überlieferung aufgrund der vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten, die wir jetzt haben, also wie Erlebnisberichte, Dokumentensammlungen, Filme, Fotos für die Wissenschaft?
• 8:47 - 9:18
Malte Thießen: Also die Überlieferungen zu Corona ist nichts weniger als wirklich eine Revolution. Wir haben in der gesamten Geschichte der Menschheit keine einzige Pandemie, die so vielfältig, so dicht überliefert ist wie Corona. Und das ist insofern eine Revolution, weil wir das erste Mal die Möglichkeit haben, eine Pandemie in all ihren Facetten auf allen Ebenen einer Gesellschaft nachzuvollziehen. Und das ist für Historiker natürlich erst mal großartig, weil einfach ein unglaublicher Quellenfluss plötzlich da ist.
• 9:18 - 9:54
Wir können also ganz anders als früher, da war so eine Pandemie eben über staatliche Aufrufe über Behörden, Maßnahmen vielleicht noch darstellbar, über ein paar Berichte, das war es dann aber. Das macht so eine Seuchengeschichte immer sehr einseitig oder vielleicht auch manchmal ein bisschen langweilig. Das ist bei Corona nicht der Fall. Corona haben wir die Möglichkeit, wirklich sozusagen ins Mark der Gesellschaft zu gucken, im Alltag Prozesse nachzuvollziehen. Und deshalb, glaube ich, ist diese Überlieferung eine wirkliche Revolution für die Seuchengeschichte im Speziellen. Wir werden in Zukunft ganz andere Geschichten von Corona schreiben können als je über alle anderen Pandemien zuvor.
• 9:54 - 10:15
Und ich glaube, es ist letztlich auch eine Revolution für die Wahrnehmung in der Gesellschaft. Corona ist sozusagen als ein gesamtgesellschaftliches Problem präsent, auch selbst nicht Historiker:innen ist das glaube ich bewusst. Und das ist glaube ich wichtig, weil sozusagen das Problembewusstsein für Pandemien dadurch ein ganz großes ist und hoffentlich auch bleiben wird.
• 10:16 - 10:18
Kathrin Nolte: Was wird denn von der Pandemie übrigbleiben?
• 10:20 - 10:58
Malte Thießen: Also ich glaube, das Schlimmste ist, dass sozusagen das Virus erst mal bleiben wird. Wir haben ja am Anfang, ich schließe mich da gar nicht aus, ja gehofft und auch gedacht und auch erst mit guten Gründen, dass wir Corona in Schach halten und dank Impfprogrammen systematischer Impfungen auch tatsächlich vielleicht ausrotten können. Das sind so Vorstellungen, wie wir sie eben aus früheren Seuchenzügen, zum Beispiel jetzt im Kampf gegen die Pocken oder aber auch gegen die Kinderlähmung oder gegen die Masern haben. Da ist ja tatsächlich das Ziel, dass man eben die Seuche sozusagen dank systematischer Präventionsprogramme Impfungen wirklich ausrotten kann.
• 10:58 - 11:33
Dieser Traum, den wir am Anfang noch die meisten von uns geträumt haben, der ist erst mal offenbar vorbei. Das heißt, die Mutationen des Coronavirus machen uns deutlich, dass wir immer wieder uns mit Nachimpfungen oder auch mit Präventionsprogrammen sozusagen einstellen müssen. Das heißt, der Kampf gegen Corona ist erst mal in den nächsten Jahren zumindest wahrscheinlich nicht vorbei. Aber damit eben auch sind sozusagen ist diese Selbstverständlichkeit, mit der wir in unserem Alltag Prävention denken, also Vorsorge kehren, durch Masken tragen, durch Abstand halten, indem wir an Impfprogrammen teilnehmen.
• 11:34 - 12:05
Das ist etwas, was sozusagen auch bleiben wird. Und das ist insofern nicht so trivial, weil das unseren Alltag bestimmt, das heißt wirklich etwas mit uns macht, was unsere Sicht auf die Welt verändert. Wir haben, glaube ich, auch, was bleiben wird ein neues Risikobewusstsein für Pandemien. Wir haben durch Corona jetzt gelernt, dass Pandemien nicht der Ausnahmezustand sind, als den wir die Pandemie natürlich empfinden, sondern insofern ein Normalzustand, weil sie tatsächlich auch in unserer Gesellschaft immer wieder zuschlagen kann.
• 12:05 - 12:36
Pandemien sind für uns nichts Fernes mehr aus grauen Vorzeiten und auch nichts Fernes, was sozusagen nur im fernen Asien stattfindet, sondern Pandemien sind etwas, was uns direkt betreffen. Dieses Risikobewusstsein wird glaube ich und das ist vielleicht eine gute Lehre für zukünftige Pandemien uns anders vorbereiten. Dass wir sozusagen nicht, wie es im März 2020 war, noch gar nicht sicher sind: Ist das überhaupt ein Problem? Sondern dass wir frühzeitiger dann tatsächlich auch Vorkehrungen treffen und uns auf Pandemien einstellen.
• 12:36 - 13:10
Das wird, glaube ich, eine Folge bleiben und vielleicht auch ganz kleine Dinge im Alltag. Das, was man vielleicht eine muskuläre Erinnerung nennen kann, zum Beispiel der Handschlag wird erst mal verschwinden. Die Umarmung, die für uns selbstverständlich waren als Begrüßung, sind erst mal verschwunden und dafür werden wir andere Rituale haben. Der Gruß mit den Ellbogen oder eben das freundliche Zunicken und Ähnliches. Das mag erst mal banal erscheinen, aber das ist etwas, was noch einmal deutlich macht, wie tief sich diese Pandemie in unseren Alltag, in unsere Körper letztlich sozusagen eingeschrieben hat.
• 13:10 - 13:39
Kathrin Nolte: Es ist ja auch […] Und dass man sich aber auch schnell umgewöhnt und neue Gewohnheiten an den Tag legt, liegt ja auch daran, dass zum Beispiel im asiatischen Raum ja schon viel länger Masken im Alltag zu sehen waren und wir das ja als Europäer eher bislang immer vor Corona als komisch empfunden haben. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel, dass die Maske ist halt jetzt ein Teil, so wie man seinen Haustürschlüssel und sein Handy mitnimmt, nimmt man die Maske mit und das verändert ja dann auch Gewohnheiten.
• 13:40 - 14:11
Malte Thießen: Also die Maske ist ein ganz tolles Beispiel. Vollkommen richtig. Die Maske ist innerhalb kürzester Zeit komplett umcodiert worden. In westlichen Gesellschaften ist die Maske tatsächlich ganz lange mit fast schon mit Abscheu gesehen worden. Das widerspricht unserer Gewohnheit, dass wir das […] Wir verstehen das Gesicht als einen Kontakthof, ist das mal genannt worden, als unseren Ausdruck von Kontaktaufnahme mit unserem Gegenüber. Und deshalb ist die Maske für uns ein Riesenproblem am Anfang gewesen.
• 14:11 - 14:45
Das passt nicht in unsere Kultur, so scheint es, Vermummung ist das, das sich distanzieren. Und diese Zuschreibungen, dass sozusagen Maske als etwas Fremdes, als etwas Abstoßendes sogar erscheint, die haben sich jetzt innerhalb kürzester Zeit geändert. Die Maske ist heute tatsächlich umgekehrt als ein Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein, von Solidarität jetzt sozusagen in unserer Gesellschaft auch angekommen. Da waren asiatische Gesellschaften schon sehr viel früher, sehr viel weiter. Und ich finde auch sehr schönes Beispiel, wie sich tatsächlich Gewohnheiten ändern und auch dauerhaft ändern.
• 14:45 - 15:12
Wir haben am Anfang im Jahr 2020 eigentlich nicht glauben können, dass man sich das Händeschütteln abgewöhnen kann. Es gab ja auch viele Szenen noch im Jahr 2020, wo man dann peinlich berührt die Hand zurückzog, weil man doch noch mal die Hand ausstreckte. Das ist mittlerweile im Jahr 2021 meiner Meinung nach nicht mehr der Fall. Vollkommen richtig. Wir gewöhnen uns um und wir gewöhnen uns mit den kleinen Dingen im Alltag um. Und das zeigt, wie tief diese Pandemie tatsächlich bei uns angekommen ist.
• 15:12 - 15:23
Kathrin Nolte: Lässt sich Geschichte als Historiker eigentlich in Echtzeit schreiben? Und an welche Grenzen sind Sie denn bei Ihrer wissenschaftlichen Arbeit für Ihr neues Buch „Auf Abstand“ gestoßen?
• 15:24 - 16:01
Malte Thießen: Also tatsächlich der Versuch vieler Zeithistoriker:innen momentan eine Coronageschichte zu schreiben, ist eigentlich ja sofort zum Scheitern verurteilt. Man kann ja nicht Geschichte in Echtzeit schreiben. Wie soll das gehen, die Gegenwart sozusagen zur Geschichte zu machen? Und einige Kolleg:innen haben dann eingewandt: Na ja, Zeitgeschichte macht ja immer sehr aktuelle Dinge. Was ist jetzt eigentlich das Problem? Corona ist schon ein wirklicher Extremfall. Und zwar aus zwei Gründen. Das eine ist, dass wir mit einer Coronageschichte, wenn wir denn eine Coronageschichte schreiben, tatsächlich unsere Gegenwart beschreiben, die momentan passiert, in der wir selbst drin sind.
• 16:02 - 16:34
Das heißt, wir müssen uns selbst als mit unseren Wahrnehmungen, mit unseren Verzerrungen, auch mit unserer ganz subjektiven Beobachtung sozusagen selbst immer wieder hinterfragen. Und das ist bei einer so gegenwärtigen Geschichte ein Riesenproblem. Das sehr viel größere Problem ist noch, das Corona endlos momentan ist, also kein Ende hat und wir nicht wissen, von welchem Punkt aus wir diese Geschichte schreiben sollen. Das merkt man bei vielen Darstellungen, auch bei meinem Buch übrigens, dass fieberhaft sozusagen einen Endpunkt gesucht ist, von dem aus man eben eine Geschichte erzählen kann.
• 16:34 - 16:35
Kathrin Nolte: Und ein Fazit ziehen kann.
• 16:35 - 17:06
Malte Thießen: Und ein Fazit ziehen. Und das ist momentan schwer möglich, weil es eben bei Corona noch unabgeschlossen ist. Nun könnte man sagen, wenn es so große Probleme sind, dann sollte man es einfach lassen. Ich glaube trotzdem, dass gerade die Zeitgeschichte und gerade jetzt aktuell an der Darstellung der Corona-Pandemie einer Coronageschichte, dass das ein ganz großes Potenzial ist und dass das wichtig ist. Und zwar deshalb, weil wir zum einen momentan merken, innerhalb dieser kurzen Zeit, die Corona uns betroffen hat, dass Dinge in Vergessenheit geraten.
• 17:07 - 17:37
Es wird selbst jetzt schon 2021, wird kaum noch gesprochen, zum Beispiel von den Ausgrenzungen, die wir 2020 erlebt haben. Die Asiaten, die zuerst als Bedrohung erschienen, dann später die Skifahrer:innen, dann die Menschen aus Gütersloh aus Ischgl, die hatten schon länger das Problem. Solche Ausgrenzungsprozesse sind heutzutage eigentlich fast vergessen. Die frühen Grenzziehungen, die wir 2020 erlebt haben, wie plötzlich überall in Europa, die Schotten dichtgemacht wurden oder die Verteilungskämpfe beim Impfen. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Heute sind wir froh, wenn sich Leute impfen lassen.
• 17:37 - 18:09
Das war eben Anfang 2021 ganz anders. Da gab es massive Verteilungskämpfe, richtige Konflikte. Also wir haben viele Aspekte, eine Coronageschichte, die in Vergessenheit zu drohen geraten. Und wenn wir jetzt anfangen zu schreiben, jetzt sozusagen Impulse setzen für zukünftige Forschung, haben wir, glaube ich, die Chance, dass die Coronageschichte eine gute Zukunft hat, indem wir jetzt sozusagen schon Dinge festhalten, die man dann mit Abstand in einigen Jahren dann sozusagen vielleicht noch sehr viel besser analysieren kann.
• 18:10 - 18:23
Aber wir setzen jetzt eine Grundlage dafür, dass wir die Coronageschichte in ihrer Vielfalt, in ihrer Widersprüchlichkeit jetzt festhalten und eben wie gesagt Impulse für eine Geschichte in der Zukunft setzen. Und das ist es wert, bei allen Problemen, die es immer mit sich bringt.
• 18:24 - 18:29
Kathrin Nolte: Dann schauen wir mal, wie lange wir noch auf Abstand gehen müssen. Vielen Dank für das Gespräch.
• 18:29 - 18:36
Malte Thießen: Danke Ihnen!