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10. Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: „Wohnraum nimmt bei einer gelungenen Integration einen sehr großen Stellenwert ein“

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Kathrin Nolte: In dieser Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“ sprechen wir über Migration und Integration im ländlichen Raum. Aufgrund der Corona-Pandemie nehmen wir diese Folge im Homeoffice auf. Bevor es losgeht, möchten wir uns kurz vorstellen. Mein Name ist Kathrin Nolte und ich bin im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte für die Wissenschaftskommunikation zuständig. Mein Interviewgast Dr. Jens Gründler ist wissenschaftlicher Referent im Institut. Mit dem Forschungsprojekt „Migration, Wohnen und Integration im ländlichen Raum“ untersuchen Sie die Wohnverhältnisse und Ankunftsquartiere migrantischer Gruppen im ländlichen Westfalen zwischen 1970 und 2010.

• 0:50 - 0:55

Welchen Stellenwert nimmt der Wohnraum für eine gelungene Integration auf dem Land ein?

• 0:56 - 1:29

Jens Gründler: Zuerst würde ich ganz kategorisch feststellen einen sehr großen und möchte das an einem Beispiel ausführen. Das Wohnungsproblem in der Stadt Gütersloh ist ein Ausländerproblem. So titelte die Tageszeitung „Die Glocke“ im Januar 1981. Und daran wird schon deutlich, so möchte ich sagen, wie Wohnen und Wohnraum für die migrantische Bevölkerung wahrgenommen wird, nämlich erst mal als Problem.

• 1:31 - 2:01

Zumindest von der Mehrheitsgesellschaft und hier in diesem Fall von der Verwaltung der Stadt Gütersloh wird die Unterbringung von Ausländern als eine Herausforderung zumindest geschildert. Im weiteren Verlauf dieses Artikels wird ein hoher Verwaltungsbeamter der Stadt Gütersloh weiter zitiert. Der nämlich differenziert dann diese Ausländer in Anführungszeichen in mehrere Gruppen.

• 2:02 - 2:40

Und ganz schnell wird dann deutlich, dass er zuvorderst mit Ausländerproblem die Unterbringung türkischer Migrantinnen und Migranten auf dem Wohnungsmarkt im ländlichen Kreis Gütersloh meint. Und schon zu Beginn der 1970er-Jahre und dann verstärkt in den 1980er-Jahren wird das Wohnen zuerst skandalisiert und dann problematisiert von Verwaltung und Gesellschaft. Und man verbindet damit eben, ob Integration überhaupt gelingen kann oder nicht.

• 2:41 - 3:14

Während zu Beginn der 70er Jahre zum Beispiel in derselben Zeitung, aber auch in anderen Regionalzeitungen eben zuvor, das skandalisiert wird, wie türkische Migrantinnen und Migranten und ehemalige Gastarbeiter:innen untergebracht werden, wird das im Laufe der Zeit bis in die 80er eher zu einer Problemschilderung und eben das führt dazu, dass man Wohnviertel oder Straßenzüge als Problemviertel wahrnimmt.

• 3:14 - 3:27

Man findet das in kleineren Städten wie Harsewinkel und im Prinzip im gesamten Kreis für jede Kommune. Und soweit ich das überblicke, gilt das im Prinzip auch für ganz Westfalen.

• 3:28 - 3:35

Kathrin Nolte: Wie ging denn die Politik und die Verwaltung sowie die ansässige Wohnbevölkerung, die es ja auch noch gibt, mit den Migrantinnen und Migranten um?

• 3:37 - 4:33

Jens Gründler: Ja, das ist gar nicht so einfach zu beantworten, weil das sehr unterschiedlich war. Sie haben in der Politik natürlich durch die Parteien ein unterschiedliches Meinungsspektrum: In der Verwaltung eine relativ traditionelle Vorstellung und in der Wohnbevölkerung gibt es sowohl die Befürworterinnen und Befürworter von Migration als auch die Gegner:innen. Und diese Gegner:innen sind zumindest in den Fällen, die ich bisher gesehen habe, ganz häufig zumindest in den 70er und 80er-Jahren eben Menschen, die sich als besonders betroffen empfinden, weil sie zum Beispiel in der Nähe von solchen Siedlungen mit hohem Ausländeranteil wohnen, weil ihre Kinder auf Schulen gehen, wo der Ausländeranteil steigt, etc.

• 4:34 - 5:10

In der Politik haben sie eben das gesamte Spektrum von CDU im Raum Westfalen bis zur SPD über die FDP. Da gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen. Sie haben dann als weiteren Akteur noch sozusagen die Wirtschaftsbetriebe, die natürlich auch ein ganz eigenes Interesse haben, Migrantinnen und Migranten anzuwerben bzw. zu halten und das Beispiel, das ich am intensivsten untersucht habe bisher, ist die Siedlung Dammanshof in Harsewinkel.

• 5:11 - 6:09

Das ist eine Hochhaussiedlung in einer ländlichen Kleinstadt, die für die Unterbringung von britischen Soldaten und ihren Familien gebaut wurde, Mitte der 70er Jahre und dann im Zuge der Kündigung dieser Mietverträge durch die britische Militäradministration zu einem in Anführungszeichen Problemviertel und in den Worten der Bevölkerung „zu einem Ghetto“ wird. Diese Problematisierung wird von der Verwaltung übernommen und auch von der Politik, während karitative Organisationen, die in der Siedlung dann arbeiten, die Caritas und die Arbeiterwohlfahrt, die da Beratungszentren machen, eher die positiven Aspekte sehen, die diese Unterbringung fördern kann und hier aber auch Forderungen stellen, was noch zu tun ist.

• 6:09 - 7:01

Und man sieht dann ganz schnell die sozusagen direkten Anliegerinnen und Anlieger problematisieren das verschärft, weil sie sich als Betroffene empfinden. Und was ich gerade gesagt habe, die Kinder, die da wohnen von Gastarbeiter:innen, Flüchtlingen und dann im späteren Verlauf der 1980er Jahre auch Spätaussiedler:innen aus der UdSSR, die gehen auf die Schulen, in denen eben auch die Kinder der Anwohnerinnen und Anwohner sind und verändern natürlich das Bild ganz massiv und werden von den Anwohner:innen nicht als Chance zur Erweiterung des Horizonts oder der Sprachkompetenzen der Kinder gesehen, sondern zuerst als Problem, dass ihre Kinder abgehängt würden bzw. dass die Schule den Standard senken könnte. Oder die Schulen, die da vor Ort sind.

• 7:01 – 7:45

Man sieht dann, die Verwaltung übernimmt relativ zügig diese Einschätzung in weiten Teilen, hat aber das Problem also in Anführungszeichen, das Problem selbst geschaffen, indem sie nämlich diese Wohnungen sehr früh nachdem die britischen Familien, die verlassen haben, an Sozialhilfeempfänger:innen an Asylbewerber:innen vermietet hat. Und die Wohnungen, die auf dem freien Markt sozusagen vermietet worden waren von den Besitzern der Wohnungen, die gingen an die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, vielfach, weil in Harsewinkel selbst diese Siedlung und die Wohnungen in der Siedlung nicht zu vermieten waren.

• 7:45 - 8:18

Das lag einmal daran, dass sozusagen der westfälische Kleinstadtbewohner ungern in einem sogenannten Hochhaus wohnt. Also es waren bis zu acht Geschosse. Das war sehr unbeliebt. Und die Wohnungen und das gesamte Wohnumfeld war in einem sehr schlechten Zustand. Zum einen sind die Wohnungen in den zehn Jahren überhaupt nicht in Schuss gehalten worden von den Besitzern, die waren über eine Vermietungsfirma vermietet und zum anderen gab es da zum Beispiel keine vernünftigen Außenanlagen.

• 8:18 - 8:23

Also die Kinder konnten im Prinzip auf Parkplätzen spielen, weil es keine Spielplätze gab.

• 8:23 - 8:25

Kathrin Nolte: Also kein schönes Wohnumfeld.

• 8:25 - 9:05

Jens Gründler: Ja, also überhaupt nicht. Und im Prinzip führt das dazu, dass die Verwaltung und die Vermieter:innen so unter der Hand im Prinzip ich sage jetzt keinen Deal machten, aber sich darauf verständigen, dass man eben diese Menschen, die man sonst auf dem freien Wohnungsmarkt eben gar nicht unterbringen konnte, das, was ich im Eingang gesagt habe, dass man eben auf den freien Wohnungsmarkt türkische Migrantinnen und Migranten z.B. kaum unterbringen kann, dass die Verwaltung und die Vermieter eben die Möglichkeit sahen, die Wohnungen noch zu nutzen bzw. damit Geld zu verdienen.

• 9:06 - 9:40

Für die Besitzer der Wohnungen war dann ganz schnell klar, dass sie das eigentlich selber nicht mehr organisieren können und die Stadt Harsewinkel hat dann relativ schnell einen Ankauf der Wohnungen erwogen. Eigentlich erst mit dem Ziel, von den 227 existierenden Wohneinheiten einen Großteil abzureißen, also ganze Hausblöcke verschwinden zu lassen, um sozusagen mehr Einfluss darauf zu haben, wer dann da wohnt und wie sich das gestaltet, das Wohnen dort vor Ort. Der Ankauf funktioniert, weil das Land Nordrhein-Westfalen ein Teil der Finanzierung übernimmt.

• 9:40 - 10:36

Aber was nicht mehr funktioniert, ist der Abriss, also die Verkleinerung dieser Siedlung. Weil durch die Veränderungen in der Sowjetunion eben hauptsächlich im Kontext der Spätaussiedlermigration, die ihre Ausreiseerleichterungen bzw. die Ausreiseerlaubnisse für Spätaussiedler dazu führten, dass relativ viele Menschen eben aus der UdSSR nach Deutschland kamen und untergebracht werden mussten. Das Land Nordrhein-Westfalen entwickelte sich relativ schnell zu einem Hotspot und die Region um Detmold, Gütersloh, Harsewinkel zu einem besonderen Hotspot für diese mennonitische Zuwanderung in Deutschland. Und dann hat das Land Nordrhein-Westfalen relativ schnell gesagt: Ja, wir finanzieren das, aber abreißen könnt ihr da nichts, sonst finanzieren wir das eben nicht mehr, weil wir diese Menschen unterbringen müssen und einigermaßen vernünftig unterbringen müssen.

• 10:36 - 11:02

Und jede Wohnung, die quasi existiert, muss dann eben auch erhalten bleiben. Das zeigt so ein bisschen die Verwaltung schafft sich ihr Problem selber und nicht nur die Verwaltung, natürlich auch die Politik, die das ja maßgeblich mitträgt, dieses Verhalten der Verwaltung. Und man bekommt dann aber relativ schnell auch Fördermittel, um das Wohnumfeld in dieser Siedlung verbessern zu können.

• 11:02 - 11:03

Kathrin Nolte: Und das wurde dann auch getan?

• 11:04 - 11:35

Jens Gründler: Das dauert dann relativ lange. Das kann man auch gar nicht sozusagen jemand bestimmten immer zuschreiben. Es gibt relativ früh von den Beratungszentren der Arbeiterwohlfahrt und der Caritas Vorschläge, zum Beispiel Jugendzentren einzurichten, also Jugendeinrichtungen zu machen, wo sich eben die Kinder, die da wohnen und die Jugendlichen treffen können, wo es Hausaufgabenhilfe gibt etc. und wo man eben auch Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter einstellen will.

• 11:36 - 12:07

Aber das wird relativ lange blockiert und dann kann man einzelne politische Akteure ausmachen, die das eben ablehnen und die Integration in normale Sportvereine zum Beispiel fordern. Und es gibt eher Akteure, die sagen Ja, aber wir brauchen trotzdem zusätzlich einen Raum und Sozialarbeiter:innen, weil die eben auch besondere Bedürfnisse haben, diese Kinder und Jugendlichen. Gerade eben in der Siedlung in Dammanshof. Und als die mennonitischen Migrant:innen dazu kommen, da ist plötzlich mehr Geld da und mehr Bewegung.

• 12:07 - 12:11

Und man ist bereit, eben viel mehr Geld zu investieren und eben auch schneller zu investieren. Trotzdem […]

• 12:11 - 12:19

Kathrin Nolte: Damit wir das so ein bisschen zeitlich einordnen: Wann bewegen wir uns? War das in den 80er Jahren? Oder […]?

• 12:19 – 13:00

Jens Gründler: Also die Briten verlassen die Wohnungen ab 1984/1985. Die mennonitische Zuwanderung setzt ungefähr 1986, Ende 1986 und dann ab 1987 ganz mit sehr hohen Zahlen ein. Wir bewegen uns also im Prinzip in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Und dann wird relativ schnell klar, dass das Geld da ist durch diese zusätzliche Zuwanderung und das Land Nordrhein-Westfalen, aber auch der Bund wollen das fördern, dann solche Leuchtturmprojekte auch zur Wohl- und Umfeldverbesserung.

• 13:00 - 13:34

Und an den Mennoniten sieht man auch ganz gut, die werden zumindest in der Verwaltung und in der Lokalpresse ganz anders dargestellt als zum Beispiel türkische Migrantinnen und Migranten, die hier als Problem beschrieben werden. Die Mennoniten gelten eher als zumindest erst mal in diesem öffentlichen Bild, als sehr leistungsbereit, als ruhig und gesittet und leicht zu integrieren. Deren Deutschkenntnisse gelten zumindest als gut und deswegen, so der Tenor von Zeitungen und Verwaltung, dürften die auch in der Schule keine Probleme erzeugen.

• 13:35 - 13:54

Kathrin Nolte: Jetzt haben wir ja viel über die Wohnbevölkerung und auch von den Akteuren vor Ort was gehört. Jetzt gibt es hier natürlich noch die andere Seite der Medaille, nämlich diejenigen, die nach Deutschland, nach Harsewinkel gekommen sind. Wie war es denn um deren Integrationswillen bestellt?

• 13:55 - 14:32

Jens Gründler: Das ist im Prinzip noch schwieriger zu beantworten. Da müsste man im Prinzip immer in die einzelnen Gruppen hineingucken. Also nicht nur die Politik und Verwaltung haben ja einen zumindest teilweise differenzierten Blick auf die migrantischen Gruppen, sondern die migrantischen Gruppen differenzieren sich ja auch selbst. Also um noch mal auf diese mennonitischen Spätaussiedler:innen zu kommen, die empfinden sich auch selbst als integrationswillig und wollen im Prinzip unbedingt Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft werden.

• 14:32 - 15:20

Die sind zwar konfessionell etwas anders, aber die empfinden sich als deutsche Bürgerinnen und Bürger und wollen das auch quasi vollständig werden. Dann gibt es auf der anderen Seite eben, was ich gesagt habe, im Dammanshof zumindest türkische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter mit muslimischem Glauben und christliche Aramäer:innen mit türkischem Pass, die als Flüchtlinge gekommen sind, und das ist schon viel schwieriger zu beantworten. Zum einen, weil kaum Quellen vorhanden sind, dazu außer aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft und ich nicht so ganz in der Lage bin, Quellen aus den Gruppen selbst zu bearbeiten, weil mir zum Beispiel die Sprachkenntnisse fehlen.

• 15:20 – 15:53

Es ist noch geplant, mit einzelnen Personen Interviews zu machen. Das steht jetzt auf der Agenda. Aber so grundsätzlich von außen gesehen würde man sagen, der Integrationswillen ist da. Sowohl bei den Aramäer:innen, den christlichen Araber:innen und den muslimischen Türk:innen und das erkennt man daran, dass sie zum einen eigene Vereine gründen und sich auch im Dammanshof engagieren. Also die Probleme selbst in Angriff nehmen wollen.

• 15:55 - 16:32

Und zum anderen, weil zum Beispiel der schulische Erfolg für diese Migrantengruppen, der schulische Erfolg ihrer Kinder durchaus wichtig ist. Zumindest erscheint das so. Aber ansonsten habe ich bisher hauptsächlich den Blick von außen auf diese Gruppen. Und da stellt man eben relativ schnell fest: Die werden zuvorderst, also zumindest die aus dem Süden, also aus dem Mittelmeerraum Türkei und andere Staaten des nördlichen
Afrika-Mittelmeerraums werden hauptsächlich problematisiert.

• 16:32 - 17:20

Gerade türkische Migrant:innen mit muslimischem Glauben werden als besonders schwer integrierbar dargestellt, und man sieht dann zumindest in den Verwaltungsberichten auch relativ schnell, dass zumindest bestimmte Stereotype demgegenüber existieren, die aber häufig nicht nur auf sozusagen die Konfession, also den Glauben zurückzuführen sind, sondern auch auf den Sozialstatus und das Verhalten. Also die türkischen Gastarbeiter:innen sind die, die im Dammanshof wohnen. Es gibt da [eine] relativ gute Übersicht. In einer Verwaltungsakte sind alle beschäftigt, also verdienen Geld, werden aber trotzdem von der Verwaltung als schwierig empfunden, weil sie zum Beispiel Geld ausgeben für Sachen, denen die armen oder sozusagen ärmeren Bevölkerungsschichten zumindest in der Vorstellung der Verwaltung nicht wirklich zustehen.

• 17:20 - 17:26

Da wird dann eine Beschwerde geführt darüber, dass die tatsächlich auch Autos und Fernseher kaufen statt angemessene Kleidung.

• 17:27 - 17:29

Katrin Nolte: Angemessene Kleidung ist ja auch immer Definitionssache?

• 17:29 - 18:11

Jens Gründler: Ja, das würde ich sofort unterschreiben. Und tatsächlich ist das ja also, wenn man immer liberale Freiheiten einfordert und Konsumverhalten als individuell betrachtet, das ist in den 1980er Jahren vielleicht noch nicht ganz so ausgeprägt, aber dann darf man sich eben nicht beschweren. So denke ich, wenn Bevölkerungsgruppen eben eigene Prioritäten setzen in diesem Verhalten. Und dann gehört eben mit Fernseher und Videorekorder zum Beispiel dazu, weil das gerade für türkische Migranten der ersten Generation, die noch nicht so gut Deutsch sprechen können, eine Möglichkeit ist, zum Beispiel, am kulturellen Leben stärker zu partizipieren.

• 18:11 - 18:50

Die gucken dann eben Filme mit türkischen Untertiteln oder in türkischer Synchronisierung oder gucken türkische Fernsehsendungen, die von Menschen aufgenommen wurden oder dann aus der Türkei sogar in die Bundesrepublik geschickt wurden. Und das ist deren Möglichkeiten, stärker zu partizipieren. Das kann man ja gar nicht […] Eigentlich sollte man das nicht verwerflich finden, sondern das ist ja eine Stärke von migrantischen Menschen, dass sie im Prinzip in zwei Welten noch beheimatet sind. Während natürlich die Verwaltung und zum Beispiel auch die Schulverwaltung gerade dieses Verwurzeltsein in zwei Kulturkreisen oder in zwei Ländern in zwei Heimaten haben immer nur problematisiert.

• 18:51 - 19:02

Wenn man noch in der Türkei ein Standbein hat, kann man nicht in der Bundesrepublik ankommen. Das ist so der Tenor, den zumindest die lokalen Schulverwaltungen immer wieder vorbringen.

• 19:03 - 19:25

Kathrin Nolte: Wenn wir jetzt die Brücke aus den 80er Jahren mehr in die Gegenwart schlagen. Das Wohnen von Flüchtlingen wurde ja zuletzt 2015 in der Migrationskrise relevant. Vielleicht eine grundsätzlichere Frage: Was sagt denn der Umgang mit migrantischen Bevölkerungsgruppen über das mentale Gesamtklima einer Gesellschaft aus?

• 19:27 - 20:02

Ja, das ist auch wieder nicht besonders trivial zu beantworten, ehrlich gesagt. Also ich glaube zum einen das mentale Gesamtklima einer Gesellschaft und das wird, glaube ich in der sogenannten Migrationskrise 2015 sehr deutlich, das existiert ja nur in Teilen oder in Schattierungen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen waren ja 2015 sehr euphorisch und engagiert bei der Hilfestellung für Flüchtlinge gerade aus Syrien oder dem Irak.

• 20:03 - 20:39

Und ich glaube da, das ist sozusagen eine Seite, die man als zumindest humanitär werden kann, während andere Teile der Bevölkerung eben diese Problematisierung von Migration weiter vorantrieben. Und da muss man gar nicht so weit gehen, dass man zur AfD guckt oder an den rechten Rand von CDU und CSU. Da gibt es ja genauso am rechten Rand der SPD oder bei den Grünen Menschen und Akteure und Akteurinnen, die fordern, dass man Migration begrenzen muss.

• 20:39 - 21:23

Und am Wohnen und an der Unterbringung von Flüchtlingen und Migrant:innen zeigt sich, glaube ich, in der in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre, dass die Verwaltung zumindest vor Ort die Verwaltung gegenüber den 70er und 80er Jahren dazugelernt haben, indem sie nämlich früh feststellen, welche Standards eigentlich zu gelten haben, wenn man Menschen mit Wohnraum versorgt und das auch umsetzen oder versuchen umzusetzen, dass das hakt und dass das in Situationen, wo man vor massiver Zuwanderung steht, eben auch schwierig ist und dass man dann Turnhallen requirieren muss, das halte ich für völlig verständlich.

• 21:23 - 21:57

Und das sieht man ja zum Beispiel auch nach 1945, als die Heimatvertriebenen in die Bundesrepublik transportiert werden aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Dass man, selbst wenn man damit rechnet, dass es so viele sind, eben doch logistisch vor massiven Problemen steht. Aber trotzdem kriegen die Verwaltungen das dann ja relativ schnell in den Griff und bauen dann Wohnungen oder Häuser, die danach dann häufig auch dem normalen Wohnungsmarkt zugeführt werden können.

• 21:57 - 22:38

Und das ist, glaube ich, was man dazugelernt hat. Gleichzeitig muss man natürlich sagen, dass, wenn man sozusagen in den privaten Bereich privatwirtschaftlichen Bereich guckt, dass man ganz ähnliche Phänomene entdeckt wie in den 1970er- und 1980er-Jahren, dass nämlich die Unterbringung zum Beispiel von Werkvertragsarbeiter, die ja von den Unternehmen sowohl arbeitsrechtlich als auch Unterbringung praktisch komplett abgetrennt sind, dass die im Prinzip leben wie in unregulierten Arbeiterhäusern in den 1970er- und 1980er-Jahren.

• 22:40 - 23:11

Da das heute wie damals skandalisiert wird, denke ich, das ist ähnlich, dass das immer noch stattfinden kann. Da glaube ich, haben Teile der Verwaltung tatsächlich geschlafen oder das Problem nicht ernst genommen, nicht wahrgenommen. Und in der Coronapandemie wird das ja noch mal ganz offensichtlich, dass eben die Unterbringung von Menschen oder die Versorgung mit Wohnraum und im bestimmten Wohnumfeld eben auch ganz massiv Einfluss auf nicht nur das Gesundheitsverhalten, sondern auch auf Gesundheitschancen hat.

• 23:11 - 23:59

Also wenn jetzt Köln-Chorweiler durch die Presse geistert, dann ist das ja eigentlich ein Phänomen, das nicht so sehr Migrantinnen und Migranten betrifft, sondern eben Menschen mit wenig Geld und nicht so sehr Migranten. Und gleichwohl sind natürlich migrantische Gruppen oder viele migrantische Gruppen, Zuwanderinnen und Zuwanderer davon stärker betroffen, weil sie eben in schlechter bezahlter Arbeit sind, in prekärer Arbeit und dann solche Wohnverhältnisse nicht hinnehmen müssen, aber doch hinnehmen und eben auf dem Wohnungsmarkt gerade in Großstädten, aber auch auf dem Land wenig Chancen haben, sich sozusagen räumlich zu verändern.

• 24:00 - 24:30

Kathrin Nolte: Das zeigt einmal mehr, warum Geschichte und auch Forschung wichtig ist, nämlich, dass man dadurch auch Lehren für die Gegenwart ziehen kann. Ihre Untersuchung ist ja Teil unseres Forschungsschwerpunktes „Westfalen. 70-20“. Das heißt, wir dürfen da noch einige Veröffentlichungen erwarten. Deswegen können wir noch gespannt sein, was es noch an Forschungsergebnissen zu hören und zu lesen gibt. Für heute bedanke ich mich für das Gespräch.

• 24:30 - 24:46

Jens Gründler: Ich bedanke mich für die Möglichkeit, einen Einblick in die Forschungswerkstatt geben zu dürfen und habe mich sehr gefreut, das mit ihnen zu machen.