1. Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: „Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart“
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Kathrin Nolte: Bevor wir in der ersten Folge unserer Podcast-Reihe über den Band „Verhandelte Erinnerungen“ sprechen, möchten wir uns kurz vorstellen. Mein Name ist Kathrin Nolte und ich bin im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Mein Interviewpartner Dr. Matthias Frese arbeitet seit 1991 als wissenschaftlicher Referent im Institut. Herr Frese, als Mitherausgeber des Sammelbandes „Verhandelte Erinnerungen“ haben Sie sich mit dem Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945 beschäftigt.
• 0:34 - 0:36
Was sind die zentralen Forschungsergebnisse?
• 0:38 - 1:14
Matthias Frese: Zunächst steht der Wandel von Erinnerungen und dem Gedenken an die nationalsozialistische Zeit im Vordergrund. Es werden die Konjunkturen des Erinnerns und des Gedenkens in der Zeit der alten Bundesrepublik in einigen Beispielen auch während der Zeit der DDR und dann nach 1989/90 im vereinigten Deutschland behandelt. Es geht um Geschichtspolitik und um die Auseinandersetzungen mit Geschichtspolitik und mit den Erinnerungen an.
• 1:16 - 1:54
Am Beispiel von lokalen Ereignissen am Beispiel von Personen im lokalen und regionalen Handeln und am Beispiel von Gedenkorten und Gedenkstätten und deren Entwicklung im Lokalen und ganz besonders auch im dritten Teil um die Benennung von Straßen und Gebäuden und die Umbenennungen, gegebenenfalls die Änderungen und Zusätze und die Auseinandersetzungen um diese Änderungen in den jeweiligen lokalen und regionalen Gesellschaften.
• 1:55 - 2:00
Kathrin Nolte: Können Sie mir für unsere Zuhörer, damit die eine bessere Vorstellung haben, ein Beispiel mal nennen.
• 2:00 - 2:37
Matthias Frese: Ein Beispiel, das mich sehr beeindruckt hat und immer noch sehr beeindruckt, ist die Geschichte von Paul Wulf in Münster. Paul Wulf kam als sogenannter geistig Behinderter, damals hatte man andere Begriffe verwendet, in ein Heim zusammen mit seiner Schwester und wurde in der Folge der Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes zwangssterilisiert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach dem Ende des Nationalsozialismus, den Paul Wulf aufgrund glücklicher Umstände überlebt hat, kämpfte er zeit seines Lebens um die Rehabilitation.
• 2:38 - 3:12
Erst belächelt, dann zeitweise beiseitegeschoben, nicht ernst genommen und abgelehnt, erreichte er mit einer, einem ungeheuren Energieeinsatz sukzessive seine Wiederanerkennung als Verfolgter des NS-Regimes. Die Gesellschaft der Stadt nahm ihn erst als ein Ärgernis wahr, dann als ein jemanden, den man auch nicht ganz ernst nehmen musste.
• 3:13 - 3:59
Und nach und nach seit den 1960er, 1970er und in den 1980er Jahren haben sich die Perspektiven auf ihn und auf sein Bemühen um Anerkennung und Rehabilitation und Wiedergutmachungsleistungen geändert. Und er wurde zu einer respektierten Person, die auch in dieser Gesellschaft als ein Mensch anerkannt wurde, dem großes Unrecht geschehen ist und den man deswegen um sein Unrecht wieder versuchen sollte in irgendeiner Form Anerkennung, ihm öffentliche Anerkennung ihm zukommen zu lassen.
• 3:59 - 4:29
Heute ist Paul Wulf eine wichtige Referenzperson in der Geschichte der Stadt, wenn es um die Erinnerungen an die Verbrechen des NS geht und wenn es um die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende des Nationalsozialismus geht. Es geht also immer um Aushandlungen von Geschichte während der 1950er, 1960er, 70er und 80er Jahre.
• 4:29 - 5:10
Das ist ein Beispiel, das mich sehr beeindruckt hat. Weitere Beispiele in dem Band sind die Geschichte der Person Hermann Simon, einer für lange Jahre als Koryphäe in der deutschen Psychiatrie angesehenen Person, nach dem ein wichtiger Preis in der Psychiatrie benannt war und dessen Vorgeschichte dann zur Änderung des Preisnamens und schließlich zur Einstellung des Preises geführt hat. Andere Beispiele sind die Geschichte des Gedenkortes in Herford, Gedenkort eines Gefängnisses, das ein Archiv wurde und heute ein Gedenkort ist.
• 5:10 - 5:54
Beispiele sind die Denkmal Landschaft an der Porta Westfalica, die Auseinandersetzung im Sauerland in Arnsberg mit einem Massenmord am Kriegsende und dem Umgang mit dem Erinnern an diesen Massenmord in der lokalen und teilregionalen Gesellschaft. Schließlich, die sehr beeindruckenden Beiträge um Straßenbenennungen und -umbenennung und die Auseinandersetzungen am Beispiel Münster, am Beispiel Oldenburg, aber auch im internationalen Vergleich in einem großen Beitrag zu den Auseinandersetzungen in österreichischen Städten.
• 5:56 - 6:05
Kathrin Nolte: Warum hat der politische und der historische Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus auch 73 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch eine gesellschaftliche Relevanz?
• 6:06 - 6:52
Matthias Frese: Nun, es kommen immer wieder neue Perspektiven auf den Nationalsozialismus auf. Es werden neue Opfergruppen nicht entdeckt, aber es werden neue Personengruppen als Opfer beschrieben. Es wird ein anderer erweiterter Blick auf die Täter und auf Taten und das Verhalten während des Nationalsozialismus herausgearbeitet. Die Rolle der Gesellschaft insgesamt bekommt einen viel breiteren, differenzierteren Blick und man fragt heute viel stärker danach: Wie verhalten sich die Einzelnen unter einer oder während einer Diktatur?
• 6:52 - 7:21
Und Opfer können zu Tätern werden, Täter zu Opfern werden. Die Rolle der Bystander. Raul Hilberg, der amerikanische Historiker, nannte es mal die Zuschauer neben den Opfern und den Tätern, Und ich glaube, Historiker können zeigen, dass es bei diesem Streit eigentlich weniger um die Geschichte an sich geht also um das Denkmal im engeren Sinne, sondern es geht immer um die Gegenwart. Erinnerung ist nicht Geschichte, sondern Gegenwart. Die Streitereien um das Denkmal sind deshalb so intensiv und so heftig, weil gegenwärtige Position, gegenseitige Wünsche, Bedürfnisse und Ängste verhandelt werden. Und genau das, diesen Befund, dass wir uns sozusagen an diesem Denkmal immer mit unserem heutigen Selbstverständnis auseinandersetzen, das können Historiker aufzeigen und darum vielleicht auch zur Versachlichung der Debatte beitragen, kommt viel stärker in den Blick und man fragt viel differenzierter und ausführlicher nach dem Verhalten während der NS-Zeit.
• 7:22 - 7:25
Kathrin Nolte: Was treibt Sie als Historiker an, solche Themen zu erforschen?
• 7:27 - 7:59
Matthias Frese: Der Titel des Sammelbandes, über den wir heute sprechen, „Verhandelte Erinnerungen“. Gibt es etwas vor verhandelte Erinnerungen? Heißt Auseinandersetzung um Erinnerung, um Geschichtspolitik, die dann auch immer heute Vergangenheitspolitik bedeutet. Diese Auseinandersetzungen und solche Konflikte um Neuaneignungen von Geschichte, die machen den Reiz für den Historiker aus. Vergangenheit ragt in die Gegenwart.
• 7:59 - 8:38
Wir haben es mit den Denkmälern, den Gedenkorten, den Irrungen und damit immer mit Handlungen aus der Vergangenheit zu tun, die, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen. Diese kann man an Beispielen im Lokalen, im Regionalen, manchmal auch im nationalen Raum untersuchen. Hier in Westfalen, in Nordrhein-Westfalen eignet sich das ganz besonders gut. Und aus diesem Grunde haben wir uns schon seit Längerem zunächst mit Straßenumbenennungen, aber jetzt eben auch mit Geschichtspolitik und Vergangenheitspolitik mit beschäftigt.
• 8:39 - 8:40
Kathrin Nolte: Vielen Dank für das Gespräch!