Die Teilprojekte im Überblick
Wir leben in bewegten Zeiten. Der demografische Wandel und die Digitalisierung, Debatten über Migrationsbewegungen, Populismus und die Verschärfung sozialer Ungleichheit sorgen für Schlagzeilen. Wie lassen sich diese gegenwärtigen Entwicklungen einordnen? Was sind die historischen Hintergründe aktueller Prozesse und Probleme? Diesen und weiteren Fragen geht das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte mit seinem Forschungsschwerpunkt „Westfalen.70-20“ nach, der erstmals die Geschichte eines Landes und seiner Teilregionen zwischen 1970 und 2020 systematisch in den Blick nimmt. In diesem Zeitalter sind fundamentale Wandlungsprozesse spürbar, die einer historischen Aufarbeitung harren. So ist der „Strukturwandel“ in Westfalen wie in Nordrhein-Westfalen komplexer, als das Schlagwort suggeriert. Während im Ruhrgebiet ganze Industriezweige von der Bildfläche verschwanden, erwiesen sich andere Teile Westfalens und des Rheinlandes als sehr viel anpassungsfähiger. Hier lassen sich erstaunliche „Boomphasen“ feststellen.
Im Schwerpunkt sind zum einen Projekte des Instituts angesiedelt: Laufende Forschungsprojekte zum Wandel von Freizeitgestaltung, Tourismus und regionalem Selbstverständnis (Matthias Frese), zu Migrationsbewegungen in ländlichen und städtischen Gesellschaften (Jens Gründler), zur Geschichte des Kalten Krieges in der Region (Thomas Küster), zum Spannungsverhältnis von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen (Julia Paulus) und zur Digitalisierung (in) der Region (Malte Thießen) eröffnen neue Perspektiven auf die Regional- und Zeitgeschichte. Zum anderen zielt der Forschungsschwerpunkt auf die Vernetzung mit regional- und zeithistorischen Einrichtungen in Deutschland und darüber hinaus. Gemeinsame Tagungen und Workshops mit Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen befördern den Austausch und intensivieren die Zusammenarbeit. Erste Ergebnisse des Forschungsschwerpunkts werden seit 2019 auf Tagungen und Workshops mit Kooperationspartner:innen aus anderen Bundesländern in überregionaler Perspektive diskutiert.
Im Fokus des Forschungsschwerpunkts steht die Regional- als jüngere Zeitgeschichte, also gesellschaftliche Entwicklungen von 1970 bis heute. Gleichwohl nehmen die Projektbearbeiterin und Projektmitarbeiter immer auch längerfristige Hintergründe in den Blick, sodass eine Problemgeschichte der Gegenwart durch das gesamte 20. Jahrhundert verfolgt wird. Für Forschungen zur Regional- als jüngere Zeitgeschichte bieten Westfalen und das Land NRW ein einmaliges Untersuchungsfeld. Aufgrund der sozialen, ökonomischen und kulturellen Vielfalt verdichten sich hier unterschiedliche Entwicklungen der Spät- und Postmoderne. Es zeigt sich ein Neben- und Miteinander an Mentalitäten und Milieus, Konfessionen und Kulturen, ein breites Spektrum an ländlichen und urbanen Gesellschaften, an Wirtschaftsräumen zwischen Hochindustrie und Landwirtschaft. Und nicht zuletzt spiegeln sich in Westfalen wie in Nordrhein-Westfalen Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land, zwischen Region, Land, Nation, Europa und der Welt wider. Schließlich gewannen wirtschaftliche und politische Verflechtungen, Wissenstransfers und Migrationsbewegungen seit den 1970er Jahren noch einmal erheblich an Bedeutung.
Die Verwandlung und Vermarktung der Region. Tourismus und Freizeitgestaltung seit 1960
Bearbeiter: Matthias Frese
Das Teilprojekt untersucht am Beispiel von westfälischen und rheinischen Teilregionen und Städten im Vergleich mit südwest- und norddeutschen Feriengebieten, wie sich Urlaubsregionen, Städte und Landesregierung zu dem sich verändernden Reiseverhalten in Deutschland und zu den Herausforderungen durch den wachsenden Auslandstourismus positionieren. Welche Empfehlungen und Fördermaßnahmen gab es? Mit welchen Bildern und Erwartungen wurde geworben? Wie wurden einzelne Entwicklungen durch andere Branchen im regionalen Strukturwandel bewertet und angepasst? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens.
Migration im ländlichen Westfalen 1970-2015
Bearbeiter: Jens Gründler
Migration ist nicht erst in der sogenannten ‚Migrationskrise‘ ab 2015 in den ländlichen Regionen Westfalens angekommen. Migration war und ist allgegenwärtig, stets präsent. In den 1950er-Jahren kamen erste Gastarbeiter:innen auch auf dem platten Land an, arbeiteten in kleinen und mittelständischen Betrieben und wurden Teil der ländlichen Gesellschaften. Nach dem Anwerbestopp 1973 entschieden sich diese Gastarbeiter:innen vermehrt dazu, sich dauerhaft an ihren Arbeitsorten niederzulassen. Zudem kamen ab diesem Zeitraum immer mehr Flüchtlinge, deren „Integration“ die lokalen Gemeinschaften vor zahlreiche Herausforderungen stellte. Inwieweit diese Migrationsbewegungen die ländlichen Gesellschaften veränderten, wie lokale Verwaltung und Politik auf resultierende Probleme und Potentiale reagierten, auf welche Wissensbestände von (wissenschaftlichen) Expert:innen im lokalen Kontext zurückgegriffen wurde, wie die autochthone Bevölkerung mit den Veränderungen umging, welche Rolle Kirchen und Wohlfahrtsverbände spielten, wie Migrant:innen selbst sich organisierten und ihre Zugangs- und Integrationschancen sich gestalteten, wird in den Arbeiten dieses Forschungsschwerpunktes nachgespürt. Konkret werden u.a. die Wohnverhältnisse von Migrant:innen in ländlichen Regionen, die Integration von Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Veränderungen der politischen Landschaften durch Migration untersucht.
Die Wende in Westfalen. Aneignungen und Deutungen im anderen Deutschland seit 1989/90
Bearbeiterin: Claudia Kemper
Die jüngere deutsche Zeitgeschichte ist maßgeblich geprägt von den revolutionären Umbrüchen 1989/90 in der DDR und ihrem Beitritt zur westlichen Bundesrepublik. „Die Wende“– wie sie in Kurzform in der kollektiven Erinnerung verankert ist – wird nicht nur von Jahr zu Jahr gefeiert, sondern auch diskutiert. Der Krisenmodus solcher Diskussionen ist ungebrochen und gegenwärtig stehen insbesondere die langfristigen Folgen der Wende für die Menschen in Ostdeutschland im Mittelpunkt. Neben der erinnerungspolitischen Relevanz verbindet sich mit diesem Fokus auch das Bedürfnis, aktuelle politische Entwicklungen in Ostdeutschland nachvollziehen können.
Bislang wird in öffentlichen wie fachlichen Erzählungen vorrangig die DDR-Geschichte bzw. die Geschichte der ostdeutschen Bundesländer als „das Andere“ in der deutschen Geschichte markiert (Dorothee Wierling, Die Bundesrepublik als das andere Deutschland, in: Frank Bajohr, Anselm Doering-Manteuffel, Claudia Kemper, Detlef Siegfried (Hg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 391-402). Vor allem Westdeutsche blickten zunächst mit Begeisterung, dann Irritation und schließlich mit Befremden auf „die Neuen“ und setzten damit „das Andere“ der DDR im Denken des wiedervereinigten Deutschlands fort. Dabei gibt es gute Gründe die Perspektive einmal umzudrehen, indem die Transformationsgeschichte der neuen Bundesländer nach 1989/90 zur „eigentlichen“ Geschichte erklärt wird, um aus dieser Perspektive auf den Westen zu blicken. Denn im Unterschied zur Geschichte der „alten Bundesrepublik“ lässt sich der ökonomische, politische und gesellschaftliche Wandel, der in den 1990er-Jahren in einem westlichen Bundesland wie Nordrhein-Westfalen Raum griff nicht mehr ohne die neuen Bundesländer erzählen. Ein Perspektivenwechsel, in dem die ostdeutschen Bundesländer zum „Normalfall“ erklärt werden, hilft dabei, vermeintlich selbsterklärende Entwicklungen und Ereignisse in den westdeutschen Bundesländern seit den 1990er-Jahren mit neuem Erstaunen und neuen Fragen betrachten zu können.
Ausgangspunkt für diesen besonderen Blick (insbesondere auf Westfalen) ist die Annahme, dass sich in westdeutschen Bundesländer die Co-Transformation zwar zeitverzögert und teils subtil niederschlug, aber den weiteren Verlauf im wiedervereinigten und an Ost-West-Konflikten nicht armen Deutschland deutlich mitbestimmte. Westdeutsche Regionen mussten sich mit alten Themen ganz neu auseinandersetzen, die von ökonomischer Modernisierung über die „nationale Frage“ und Migration bis zu Schwangerschaftsabbrüchen und Rechtsextremismus reichten. Um Westdeutschland am Beispiel Nordrhein-Westfalens als den „anderen Teil“ der Wiedervereinigungsgesellschaft sichtbar zu machen, fragt das Projekt danach, wie sich Westdeutsche mit vereinigungsbedingten Veränderungen im eigenen Nahraum schwertaten und welche Beharrungstendenzen, Aneignungs- und Umdeutungsprozesse einsetzten.
Globaler Konflikt und Friedensdividende. Die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und britischem Militär in Nordrhein-Westfalen 1970-2020
Bearbeiter: Thomas Küster
Mehrere Bundesländer galten in der transatlantischen Perspektive des Kalten Krieges bis in die 1980er Jahre als sogenannte „Frontstaaten“. Das heißt: Sie lagen unmittelbar an der Grenze zwischen den beiden militärischen Blöcken des Westens und des Ostens – oder wie Westfalen in direkter Nachbarschaft. Diese relative Nähe zu einem über Jahrzehnte andauernden Großkonflikt hatte Konsequenzen für die Truppenpräsenz in der Region, für die Konzentration, die Bewaffnung und den permanenten Übungsbetrieb des dort stationierten Militärs. An der deutsch-deutschen Grenze trafen zudem Systemfragen um die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung wie kaum sonst auf der Welt aufeinander. Dabei war charakteristisch, dass es sich um einen Konflikt großer Militärbündnisse handelte, an denen dutzende Länder beteiligt waren und auf den – so scheint es – „von unten“ kaum Einfluss genommen werden konnte. Das Projekt stellt die Frage, ob diese „Naherfahrung“ militärischer Bedrohung bzw. Verteidigung die Bevölkerung in der Region in besonderem Maße für globale/politische Themen sensibilisiert hat und ob Kontakte und Erfahrungen mit dem supranational aufgestellten Militär „internationalisierend“ wirkten. Haben geostrategische und politische Diskussionen das Freund-Feind-Denken vor Ort, Annäherungen beziehungsweise Distanzierung und Skepsis gegenüber dem Militär befördert? Oder waren diese Themen so sehr mit dem weltweiten Systemkonflikt assoziiert, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an den Standorten womöglich kaum oder gar nicht betroffen fühlten? Diese Fragen sollen vor allem am Beispiel der britischen Stationierung in NRW beantwortet werden.
Frauenpolitik als Geschlechterdemokratie? – Die Anfänge von Gleichstellungspolitiken am Beispiel von NRW und Hessen
Bearbeiterin: Julia Paulus
Auf welche Weise, mit welcher Reichweite, zu welchen ‚Zeiten‘, mit welchen Themen und auf welchen (ministeriellen, parteipolitischen und zivilgesellschaftlichen) ‚Kanälen‘ wurde das Thema ‚Gleichstellung‘ beziehungsweise ‚Gleichberechtigung‘ auf der Ebene zweier Landesregierungen diskutiert und über welche Maßnahmen erfuhren erste Umsetzungen Gestalt? Diese Frage möchte Julia Paulus mit ihrem Teilprojekt auf der Ebene der Arbeitsmarkt- und Berufsausbildungspolitik der Jahre ab 1960ff. untersuchen. Zum einen sollen die (Anschub-)Modellprojekte für Mädchen und Frauen im Rahmen der Initiativen ‚Mädchen in Männerberufe‘ und die ‚Wiedereingliederungsmaßnahmen‘ von Müttern und Ehefrauen in den Arbeitsmarkt (zum Beispiel durch das Projekt ‚Frau & Beruf‘) thematisiert werden. Zum anderen sollen die – diese und viele andere Projekte im Rahmen der Gleichstellungspolitik – flankierenden Diskurse, Konflikte und vorausgehenden Querschnittspolitiken im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Thema ‚Geschlechterdemokratie‘ beleuchtet werden.
Digitalisierung (in) der Region: Eine Geschichte von Menschen, Computern und Netzen von 1970 bis heute
Bearbeiter: Malte Thießen
Die Digitalisierung prägt mittlerweile alle Bereiche unseres alltäglichen Lebens. Unsere Arbeit und unsere Freizeit, unsere Mediennutzung und Kommunikation haben sich wegen der Allgegenwart von PCs, Smartphones, Internet grundsätzlich verändert: Wie wir leben und miteinander leben ist heute immer auch eine Frage digitaler Strukturen. Das Forschungsprojekt spürt diesem Prozess der Digitalisierung von den 1970er Jahren bis in unsere Gegenwart nach. An regionalen Fallbeispielen werden Voraussetzungen, Formen und Folgen der Digitalisierung in Verwaltung und Wirtschaft, im Bildungsbereich und in den Medien in den Blick genommen. In dieser Regionalgeschichte der Digitalisierung geht es daher weniger um technische Dinge, sondern um die grundsätzliche Frage, wie der Computer und das Internet unsere Gesellschaft verändert haben – und nach wie vor verändern.