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Die „Volksgemeinschaft“ beobachten. Stimmungs- und Lageberichte der Politischen Polizei und der Regierungsstellen in Westfalen und Lippe

Bearbeiter: Matthias Frese, Niklas Kirstein

„Stapo sieht alles, hört alles und weiß alles!“[1] war ein Slogan, der von der neuen Regierung ab 1933 verbreitet wurde. Gezielt wurde damit eine Aura der Allmacht für die neu geschaffene Geheime Staatspolizei (Gestapo) erzeugt.
In der neueren Forschung gilt dieses Bild inzwischen allerdings als widerlegt. Die Gestapo war allein schon personell kaum dazu in der Lage eine „totale Überwachung“ aufzustellen. Für ihr Handeln war die Mitwirkung verschiedener Akteure und der Bevölkerung durch Denunziationen oder Weitergabe von Informationen notwendig.

Ebenso trafen die durch das neue Regime benannten Beamten in den unterschiedlich geprägten Regionen Westfalens auf eine Vielzahl unterschiedlicher ökonomischer und sozialer Verhältnisse, in denen diese die neuen staatspolitischen Normen etablieren sollten. In den geheimen Berichten, die ab 1934 monatlich vorliegen, beschreiben die Polizeibeamten ihre Wahrnehmungen und Vorgehensweisen. Die Berichte eröffnen uns daher tiefe Einblicke auf die Frage der Herrschaftskonsolidierung des frühen NS-Staates und auf unterschiedliche Strategien der Gestapo im Umgang mit der Bevölkerung.

Die Staatspolizei der Weimarer Republik war eines der ersten Organe des Staates, das die Nationalsozialisten 1933 nach ihren Vorstellungen umformten. Aus der ehemaligen Politischen Polizei der Republik wurde so ein Instrument des Terrors und der Überwachung, um die Herrschaft der NSDAP in ganz Deutschland zu verfestigen und auszuweiten. Die Außenstellen der Behörde in den Ländern wurden dazu aus ihren Zusammenhängen gelöst. War die Politische Polizei in der republikanischen Zeit noch an die Regierungspräsidenten geknüpft, wurde im März 1933 durch Hermann Göring das „Gestapa“ geschaffen: Das nun zentrale „Geheime Staatspolizeiamt“ in Berlin mit großer Machtfülle.

Die von den Außenstellen in den Regierungsbezirken Preußens angefertigten geheimen Lage- und Stimmungsberichte dienten der neuen Staatsführung dabei als Informationsquelle sowohl über die neu zugeschnittenen unterschiedlichen Verfolgungsmaßnahmen als auch über die gesellschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs. Die Gestapo erfand dieses System allerdings nicht völlig neu. Sie stützte sich vielmehr auf das althergebrachte preußische Berichtswesen, also die Berichte der Landräte, der Ortspolizeibehörden oder der Arbeitsämter.

Die Lageberichte der Gestapo begannen in knapper Form schon im Frühjahr 1933. Von 1934 bis 1936 beschrieben die leitenden Beamten der Stapostellen in den Regierungsbezirken dann monatlich die von ihnen wahrgenommenen Entwicklungen in den überwachten Gebieten und meldeten sie an die Zentrale weiter. Daneben berichteten ebenfalls auf regionaler und kommunaler Ebene staatliche und kommunale Funktionsträger an ihre übergeordneten Instanzen, teilweise auch parallel an die Dienststellen der Staatspolizei. Im Frühjahr 1936 wurde die teils umfangreiche und systematische Berichterstattung eingestellt und durch anlassbezogene Tagesmeldungen sowie Sonderberichte, beispielsweise zur wirtschaftlichen Lage, ersetzt.

Im Rahmen des über zwei Jahre laufenden Projektes sollen die Lageberichte der drei westfälischen und lippischen Staatspolizeistellen für die Jahre 1934 bis 1936 erstmals systematisch erschlossen werden. Soweit Lücken in der Überlieferung bestehen, werden die Berichte der Staatspolizei durch Berichte der Regierungspräsidenten ergänzt. Alle Berichte werden umfassend kommentiert und erläutert, u.a. durch ergänzende Informationen aus den Berichten der untergeordneten Instanzen, und mit einer umfangreichen Einleitung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Neben einer Veröffentlichung in Buchform soll eine Digitale Edition der Berichte vorbereitet werden, die den breiteren zeitlichen Rahmen vor allem für die Zeit zwischen 1936 und 1945 abdeckt und neben der Berichterstattung der zutragenden Behörden interaktive Karten und weiterführende Analysemöglichkeiten bieten soll. Die Gestapoberichte aus Westfalen und Lippe werden so erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich: Schulen, Gedenkstätten, Museen und weitere Kultur- und Bildungseinrichtungen erhalten die Möglichkeit, den Nationalsozialismus „vor Ort“ neu in den Blick zu nehmen. 

[1] Gellately, Robert: Allwissend und allgegenwärtig? Entstehung, Funktion und Wandel des Gestapo-Mythos. In: Paul; Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S.50.

Schaubild der Stapo Recklinghausen/Münster zu einer vermuteten kommunistischen Zelle aus dem Lagebericht für den Oktober 1934.